Deutschland 1. Bücherhotel Stachelbeeren im Mondschein

Von Roland Brockmann
In Mecklenburg-Vorpommern steht das erste Bücherhotel Deutschlands: 2486 Regalmeter Buch - romantische Lesungen inbegriffen: zum Beispiel Tschechow, nachts auf dem Krakower See.

Woraus wird sie vorlesen? "Tschechow," sagt die Hausherrin. Okay, unter dem Russen kann sich jeder etwas vorstellen. Aber eine Mondschein-Lesung mit Kanus mitten auf dem Krakower See? Dazu Livemusik. Wie soll das gehen?

Geiger und Gitarist stehen bereits im Frack am Ufer und schauen auf den See. Ganz schön kabbelig die Wellen. Sechs Kanus warten am Steg. Der Bootsvermieter verteilt Schwimmwesten, auch an die Musiker. Und dann steigen auch Conny Weiss und ihre Gäste ein, paddeln los in die Dunkelheit.

Groß Breesen, ein Dorf Mecklenburg Vorpommern. Ein Abend in Deutschlands erstem Bücherhotel - und zwar so ganz im Sinne der Chefin. Lesen ist die Passion von Conny Weiss, weniger der Literaturbetrieb. Lesen als Abenteuer, nicht als literarischer Zirkel. Ihre Leidenschaft gilt schlicht den Büchern.

Stapelweise liegen sie gleich auf dem Boden hinter der Rezeption des umgebauten Gutshofes. Überall Bücher: nicht nur in der Bibliothek, auch im Wintergarten, in Flurregalen und auf Fensterbänken. Bücher in allen Nischen und Ecken des Hauses. Sortiert, unsortiert. Eigens hat man eine Scheune angemietet, um den Tonnen von Büchern Raum zugeben - all den Schmökern und Wälzern, die hier inzwischen anbranden, wie eine Flut des gedruckten Wortes.

Kein Wunder, wenn das Angebot 2:1 lautet: Für zwei Bücher, die ein Besucher mitbringt, kann er sich hier eines aussuchen und mit nach Hause nehmen.

Und davon wird rege Gebrauch gemacht. Es scheint, als seien die Hotelgäste geradezu froh, an der Rezeption abladen zu dürfen, was zuhause die Regale sprengt. Mit Kisten und Kartons kommen manche an, um mit wenigen ausgesuchten Exemplaren wieder abzureisen. Zurück bleibt Ausrangiertes und scheinbar Wertloses, bis die dankbare Hand eines anderen es aus der Flut wieder herausfischt, sich damit in den Garten verzieht und dem Buch so wieder Wert gibt. Ein Umwälzwerk der Secondhand-Literatur.

Wie viele Bücher mögen es ein? "Vielleicht 200.000, vielleicht aber auch mehr." Selbst Thorsten Brock, 46, Lebensgefährte der Hotel-Chefin und Logistiker des Bücherhotels, hat längst den Überblick verloren. Seine eigentliche Maßeinheit sind Meter. Regalmeter. 2486 Meter hat er vor kurzem gemessen, jedenfalls wenn man berücksichtigt, dass die Bücher in drei Lagen auf den Brettern stehen.

Lesung bei Mondenschein

Krimi neben Kommunismus. Roman neben Ratgeber. Marx neben Maier. Wertloser Plunder neben vergessenen Schätzen - und die muss man erstmal entdecken. Zahllos und irgendwie auch wahllos quellen die Werke selbst aus Kartons und Kisten. Schon fast ein Gesamtkunstwerk aus farbigen Bucheinbänden, die im flachen Herbstlicht der Scheune aufleuchten, während die Schwalben durchs Gebälk schießen.

Umbrandet von Hardcovern und Taschenbüchern, von geistigen Größen à la Nietzsche und eher flacher Liebesprosa, steht ein pensionierter Lehrer und Hotelgast zwischen den Bücherbergen und bietet an, Ordnung zu schaffen: "Aber dann würden mindestens 70 Prozent erstmal auf den Müll wandern."

Doch Ordnung ist gar nicht im Sinne von Conny Weiss: "Gerade in der zufälligen Entdeckung beim Herumstöbern liegt doch der Reiz." Sie selbst hat zu DDR-Zeiten Pädagogik studiert, kam dann im Zuge der Wende zum Tourismus und gründete im Dorf Groß Breesen in Mecklenburg-Vorpommern das Bücherhotel mit seinem leicht verwilderten Garten. Ruhig, abgelegen - genau das Richtige zum Lesen.

"Ich bin froh keine Bücher bewerten zu müssen," sagt Conny Weiss, die selbst Bücher mag, die von "Menschen handeln". Heute Abend werden sich die Gäste ihrer Wahl beugen müssen: Bei einer Mondschein-Lesung auf dem Krakower See kann man schlecht aussteigen.

In einer ruhigen Bucht ist die paddelnde Lesetour nach 20 Minuten vor Reede gegangen. Wie ein Floß treibt die kleine Kanu-Flotte auf dem schwarz schimmernden See und hält sich gegenseitig fest, um nicht auseinanderzutreiben. Es gibt heißen Tee. Zur Einstimmung spielen die Musiker - aufrecht im Kanu stehend - ein Stück von Django Reinhardt. Dann leuchtet Connies Taschenlampe über den Seiten von Tschechows "Die Stachelbeeren" auf.

Die Erzählung handelt komischer Weise von einem Mann, der unbedingt Guthofbesitzer werden will, sich als Krönung seines Reichtums vor allem frische Stachelbeeren wünscht. Und für frische Stachelbeeren hat natürlich auch die Gutsherrin vom Bücherhotel gesorgt. Auf dem Rückweg geht dann über dem Krakower See sogar noch der Mond auf - dagegen verblasst so manches Ereignis im Literaturbetrieb.

Gutshotel Groß Breesen

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