…kommt aus einem extrem politischen Elternhaus und ist in der Politik doch eine Seiteneinsteigerin: Die 44-jährige Ärztin übernahm nach dem Regierungswechsel in Niedersachsen in diesem Frühjahr das Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit. Zuvor hatte sie sich für die CDU kurze Zeit in der Kommunalpolitik engagiert und den heutigen Ministerpräsidenten Christian Wulff beraten. Die Tochter des ehemaligen CDU-Spitzenpolitikers Ernst Albrecht studierte zunächst Volkswirtschaft, dann Medizin. Sie hat in der Frauenheilkunde gearbeitet, sich aber auch intensiv mit der Erforschung des Gesundheitssystems befasst. Mit ihrem Mann Heiko, einem Biotech-Unternehmer, hat sie sieben Kinder.
6:30
Gracia, die Dreijährige, will ein Körnerbrötchen. Sophie, die 13-Jährige, wartet auf Hilfe bei den Matheaufgaben – Flächenberechnung im Trapez. „Mama, kannst du das?“ Schön der Reihe nach. Erst gemeinsam beten, dann frühstücken, dann alles andere. Es ist lebhaft bei den von der Leyens, aber nicht chaotisch. Der Vater der sieben Kinder, ein Medizinprofessor und Biotech-Unternehmer, war schon beim Bäcker. Er hat ein paar sehr große Tüten mitgebracht und den Tisch gedeckt, auf den seine in Öl gemalten Ahnen herabsehen. Ursula von der Leyen trägt Jeans. Um diese Uhrzeit ist sie Hausfrau und Mutter. Die Ministerin gibt sie erst ab acht Uhr.
7:25
Die Kinder singen: „Roter Fuchs, wir wollen dich jagen; hörst du nicht den schweren Schritt.“ Mama singt mit. Dann geht es in den großen Garten des rot geklinkerten Hauses in Ilten bei Hannover. Die Ziegen Amei und Olympia müssen gefüttert werden, dazu das Pony Ariadne. Olympia war krank und ist noch etwas mager; aber Tollwut – wie die Frau des Tierarztes zuerst vermutet hatte – war es dann doch nicht. Von der Leyen bespricht mit den Kindern, dass sie in Zukunft aufpassen müssen, dass das Futter nicht anschimmelt. Spätestens am sechsten Tag muss die angebrochene Packung aufgebraucht sein.
7:49
Herr Wasner fährt mit dem Dienst-Mercedes vor. Die Jeans verschwinden im Schrank, Frau Ministerin trägt jetzt einen dezent gestreiften Hosenanzug. Das edle T-Shirt darunter ist das gleiche wie beim Familienfrühstück. Weil heute "Girls’ Day" ist, dürfen die ältesten Töchter Sophie und Donata mit ins Büro nach Hannover fahren. Sophie setzt noch einen kurzen Stopp an der Tankstelle durch, wo sie eine neue Karte fürs Handy bekommt. Personenschützer sind nicht dabei. Als von der Leyens Vater, Ernst Albrecht, noch Ministerpräsident war, hatte sie in Krisenzeiten Begleitschutz, sie nennt ihn die „Kinderpolizei“. Ihr war das peinlich. Heute geht es ohne.
8:45
Ursula von der Leyen packt ihren Laptop aus der Tasche und stellt ihn auf dem Schreibtisch in ihrem noch etwas kahlen 50-Quadratmeter-Büro ab. "Ohne Internet wäre ich heute nicht Ministerin", sagt sie. Ihr Mann hatte Anfang der 90er Jahre die Chance, nach Stanford zu gehen. Sie ist mitgegangen. Mit Internet und E-Mail konnte sie von zu Hause aus arbeiten, wenn die Kinder ihr die Zeit dafür ließen. Um glücklich zu sein, sagt sie, brauche sie den Wechsel zwischen Familie und Beruf. Klar, die Kinder sind ihr das Liebste; aber eben nicht alles. "Luft unter den Flügeln" gehöre auch dazu.
8:50
Mit ihrer Sprecherin geht sie eine Pressemitteilung durch, die gleich raus soll. "Butter bei die Fische", wünscht sie sich. Ihr ist der Entwurf nicht knackig genug. Sie ist ruhig, freundlich. Offenbar eine angenehme Chefin. 300 Leute hat sie im Ministerium, mehr als 8000 arbeiten in den Einrichtungen, für die ihr Ressort verantwortlich ist.
9:00
Fototermin mit den Töchtern ihrer Mitarbeiter. Sie rät ihnen, mit Mumm die eige- ne Karriere anzugehen. Vor ein paar Minuten hat sie gelernt, dass 70 Prozent der Mädchen sich für einen von zwölf typischen Frauenberufen entscheiden. Im Foyer des Ministeriums beteuert sie ihnen, das müsse nicht so bleiben. Später zeigt sie den Kids ihren Terminkalender ("Da darf ich eine Straße einweihen", "Da bin ich Hauptrednerin"). Sie hat kein Problem damit, ihren Erfolg auch zu präsentieren.
10:30
Nach einer schier endlosen Pressekonferenz über die Zukunft der niedersächsischen Krankenhäuser gibt sie Fernseh- und Radiointerviews. "Wir können jeden Euro nur einmal ausgeben." Effizienter soll alles werden, schnell muss es gehen. Als sie das sagt, lächelt sie so optimistisch, wie es altgediente Gesundheits- und Sozialpolitiker kaum noch hinkriegen. Für sie gilt: "Wir sollten diese Strukturveränderungen nicht als Bedrohung begreifen. Das lähmt nur." Davon werde sie sich auch nicht von Lobbyisten oder besorgten Wahlkreisabgeordneten abbringen lassen. "Das Rückgrat habe ich." Sie wird es brauchen.
10:55
Ein schneller Cappuccino in den Markthallen gleich neben dem Ministerium. Ein paar der Girls sind dabei. Die Zeit drängt. "Ihr müsst nicht austrinken." Der Laufschritt ist ihre bevorzugte Fortbewegungsform.
11:00
Chat im Intranet des Ministeriums mit den Töchtern der Mitarbeiter. Sie tippt zwar nur mit zwei bis drei Fingern, aber ziemlich schnell. Frage: "Kochen Sie gerne?" Antwort: "Nein." Frage: "Gefällt Ihnen ihr Job?" Antwort: "Ja." Dann: "Was wollten Sie als Kind werden?" – "Balletttänzerin. Im Zirkus auftreten." Eine Mitarbeiterin drängt: "Osnabrück können wir nicht verschieben."
11:50
Besprechung mit den engsten Mitarbeitern. Es geht um Eifersüchteleien, Kompetenzgerangel zwischen den Ministerien, aber auch um Wichtiges: Wie kann man die Einsparvorgaben des Finanzministers erfüllen und trotzdem noch eigene Schwerpunkte setzen? Ihr Lieblingsprojekt ist der Bau von "Mehrgenerationenhäusern", in denen alte Menschen ebenso betreut werden wie ganz junge. Das soll mit den Kommunen besprochen werden. Sie wird nicht locker lassen, auch wenn das Geld knapp ist. Dann meldet Staatssekretär Gerd Hoofe einen Erfolg: Die Ministerin wird bald die Regelung des Versicherungsschutzes für Ehrenamtliche verkünden können. Das freut sie.
12:15
Fahrt nach Osnabrück. Im Auto gibt es ein paar Trauben und ein Brötchen mit – Butter. Da zu Gedanken über die Rolle von Seiteneinsteigern in der Politik. Denen werde oft gesagt: "Können wir zwar gut gebrauchen. Aber nicht hier. Gehen Sie in einen anderen Wahlkreis." Senkrechtstarter wie sie hätten keine Zeit zu üben. "Sie müssen sofort gut sein." Lange habe die Karriere ihres Mannes Vorrang gehabt, aber jetzt unterstütze er sie, wo er könne. So sei klar, dass die Familie nicht umzieht, selbst wenn ihm irgendwo auf der Welt noch so verlockende Jobs angeboten würden.
14:02
Der Landrat von Osnabrück, Manfred Hugo, begrüßt sie mit einer Kiste, in der sich Wurst und eine Flasche Wein verbergen. Sie muss viele Hände schütteln. Alle sind freundlich zu ihr, selbst ausgewiesene Anhänger der alten SPD-Regierung. Jetzt ist sie es, die Geld zu verteilen hat.
14:30
Besichtigung der Jugendwerkstatt "Die Brücke". Sie schaut sich an, wie die Jungen Holzbänke bauen und Seifenkisten für ein Rennen in Osnabrück zusammenschweißen. Die Sozialarbeiter versuchen, ihnen beizubringen, was Eltern und Schule nicht geschafft haben. Es sieht fast aus, als staune von der Leyen ein wenig über Jungs, die sie um einen Kopf überragen, aber offenbar kaum lesen und schreiben können. Sie versucht ein Gespräch mit einem der jungen Männer, der an einer Holzhütte arbeitet. Viel kommt nicht zustande. Zwischen der gelernten Ärztin aus bestem Hause und den Schulversagern aus katastrophalen Verhältnissen liegen Welten. Sie sagt: Solche Kinder dürfe eine Gesellschaft nicht allein lassen. Dabei guckt sie ungewohnt ernst.
15:00
Große Gesprächsrunde mit allen Initiativen und Behörden, die in Osnabrück mit Jugendarbeit zu tun haben. Sie schreibt viel mit, hört zu. Sagt den überwiegend bärtigen Herren und den zumeist rot-grünen Damen nette Dinge: "Quer durch alle Parteien gibt es vernünftige Leute." Die Sozialarbeiter sorgen sich um ihre Projekte, um die Jobs ihrer Mitarbeiter und die dazu benötigten Fördermittel. Neue Lehrerstellen hat der neue Ministerpräsident Christian Wulff im Wahlkampf versprochen. Aber was ist mit Sozialarbeitern? Von der Leyen spricht von einer "hohen Ambivalenz der Dinge". Da klingt sie schon wie ein Politikprofi.
16:30
Rückfahrt nach Hannover. Sie knöpft sich dicke Akten vor; hört sich ein Tonband mit dem Mitschnitt einer Sitzung an, die sie verpasst hat. Am nächsten Morgen tagt in Berlin die nach Altbundespräsident Roman Herzog benannte Kommission der CDU zur Reform der sozialen Sicherungssysteme. Sie muss sich vorbereiten.
18:20
Zurück im Ministerium. Sie redigiert ein Interview mit der "Bild"-Zeitung. Ihre Referentin trägt die Unterschriftenmappen herein. Abwechselnd arbeitet von der Leyen mit zwei Stiften: einem grünen Filzschreiber, mit dem sie Anweisungen auf interne Akten schreibt. Und einem feinen Füllfederhalter zum Unterschreiben der Briefe, die das Haus verlassen. Was ist wichtig? Was kann warten? Aus allen Ecken des Büros sucht sie sich zusammen, was sie am Abend noch lesen oder bearbeiten will. Der Stapel ist gut 20 Zentimeter dick.
19:15
Nach gut elf Stunden ist sie wieder zu Hause in Ilten. Ihr Mann Heiko ist auch schon da; aber er spurtet gleich los, als sie ankommt. Mit einem Teil der Kinder fährt er zur Chorprobe. "Dad’s Taxi" steht auf seinem grünen Mercedes-Kombi. Jetzt stürzen sich die daheim gebliebenen Kinder auf ihre Mutter. Der fünfjährige Egmont hat seinen Teddy auf den hohen Stapel mit Ponyfutter geworfen. Sie besorgt eine Leiter, damit er ihn selbst herunterholen kann. Gracia, die am Morgen noch atemberaubend fröhlich war, ist jetzt müde und quengelt herum. Natürlich hat von der Leyen Hilfen, die ihr den Haushalt machen und auf die Kinder aufpassen, wenn keiner da ist. Aber trotz der privilegierten Situation bleibt für Pausen keine Zeit. Von einer Minute zur anderen wird aus der Ministerin wieder die viel- fache Mutter.
21:00
In ihrem kleinen Arbeitszimmer mit den Ikea-Regalen schließt sie ihren Laptop an und beginnt, die Akten wegzuarbeiten. Das gemeinsame Frühstück fällt am nächsten Morgen aus. Ganz früh kommen der Fahrer und die Referentin sie abholen, dann geht es nach Berlin zur Herzog-Kommission.
Stefan Schmitz