Editorial Der Holzwurm im SPD-Gebälk

Liebe stern-Leser!

Verdi-Chef Frank Bsirske, Mitglied der Grünen, hatte sein Etikett schnell gefunden: Ein "Verarmungsprogramm für Arbeitslose" schimpfte er das Reformpaket "Hartz IV", die Zusammenlegung von Sozial- und Arbeitslosenhilfe.

Das ist nicht ganz falsch, aber auch nicht ganz richtig. Sicher ist, dass es sich um eines der größten sozialpolitischen Experimente der Nachkriegsdemokratie handelt. Mehr als fünf Millionen Menschen sind betroffen. Es gibt neue Zumutbarkeitsregeln, und auch finanziell legt der Staat die Daumenschrauben an, um die allzu Bequemen in dieser Gruppe zurück in die Jobs zu zwingen. So weit, so richtig. Aber viele im Detail versteckte Ungerechtigkeiten werden manche Arbeitslose in die blanke Not treiben (siehe Seite 128).

Der Kanzler hatte ja oft und gern damit geworben, dass Arbeitslose künftig schneller und effizienter vermittelt werden. Immer nach dem anderswo in Europa erfolgreichen Prinzip "Fördern und fordern". Das Fordern wird funktionieren. Ob das Fördern klappt, kann heute niemand voraussagen, denn mehr Beschäftigung ist nirgendwo in Sicht. Die Zahl der Arbeitslosen stieg - bereinigt mit statistischen Tricks - im Juni auf eine neue Rekordmarke seit der Wiedervereinigung.

Es ist ungefähr so, als ließe man ein Flugzeug starten, obwohl niemand weiß, wie man eine Landebahn baut (lesen Sie dazu auch den Zwischenruf von Hans-Ulrich Jörges auf Seite 46).

Die Gewerkschaften indes sind uneinig, ob sie weiter meutern sollen. Ober-Rebell Bsirske rollt in dem stern-Interview auf Seite 134 erst einmal die Fahne wieder ein und morst vorsichtig "miteinander" statt "gegeneinander". Wie lange?

Und dann sammeln sich Frustrierte, ehemals Schröders Fans, auch noch in einem neuen Verein, der sich als eine Art Rächer der Entrechteten versteht. Dort schlägt das Herz noch links, was den etablierten Sozis gefährlich werden kann.

Das alles zeigt: Es kracht im Gebälk der SPD. Die Reformen sind der Holzwurm in der sozialdemokratischen Statik. Der Einsturz ist wohl nicht mehr aufzuhalten, also sollte ein neues Haus gebaut werden. Die Sozialdemokratie muss sich neu erfinden, braucht ein neues Fundament, ein frisches Grundsatzprogramm, das den Sozialstaat alter Prägung zu Grabe trägt. Da der Bruch mit vielen Stammwählern und bockigen Gewerkschaftern schon offen liegt, könnte Schröders Reformfreudigkeit zum Markenkern der SPD von morgen werden (siehe Seite 40).

Osama Bin Laden

schafft es bisweilen, mit Hilfe eines ausgeklügelten Kuriersystems Botschaften an die Öffentlichkeit zu lancieren. Wie vergangene Woche, als er auf das bevorstehende Ende einer dreimonatigen "Waffenruhe" hinweisen ließ. Die hatte er europäischen US-Verbündeten auf einer Audiocassette angeboten, um sie zum Abzug ihrer Truppen aus muslimischen Ländern zu bewegen. Bin Ladens Dreistigkeit fand nirgendwo Gehör.

Demnächst stocken Bundeswehr und andere ihre Kontingente am Hindukusch sogar auf. Die Jagd auf "HVT 1", das High- Value Target One, wie die Amerikaner den Terroristenchef umschreiben, nehmen sie selbst in die Hand. "Die Drecksarbeit im Süden und Osten machen wir", sagte ein amerikanischer Offizier stern-Reporter Uli Rauss und Fotograf Perry Kretz.

Die beiden waren mit US-Einheiten in der schroffen Gebirgswelt im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet unterwegs. Irgendwo in den Bergen, so die Arbeitstheorie der CIA, dürfte sich der meistgesuchte Mann der Welt verstecken. Die US-Militärs gaben sich ungewohnt offen: Das stern-Team konnte an Razzien der Special Forces teilnehmen, hatte Zugang zu Taktik-Meetings und Militärgefängnissen (siehe Seite 24).

Herzlichst Ihr
Andreas Petzold

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