Liebe stern-Leser!
Deutschland hat die Zukunft schon hinter sich. So lässt sich, zugespitzt, eines der Ergebnisse von Deutschlands größter gesellschaftspolitischer Umfrage formulieren. Mehr als 450 000 Teilnehmer klickten sich online durch die Fragen von "Perspektive Deutschland", einer Initiative vom stern, der Unternehmensberatung McKinsey, AOL und dem ZDF.
Zieht man des Deutschen Dauerjammern ab, bleibt immer noch ein erschreckendes Maß an Pessimismus. "Geht doch eh alles den Bach runter?!" Wir leiden an Zukunftsangst, weil es uns offenkundig nicht möglich ist, unseren Seelenzustand von den politischen und wirtschaftlichen Perspektiven der Nation abzukoppeln. Deshalb befinden wir uns in permanenter Alarmstimmung, gepaart mit einem massiven Vertrauensverlust gegenüber Parteien, Großorganisationen, geistigen und wirtschaftlichen Eliten.
Ja, die Probleme sind gewaltig, aber eine Endzeitstimmung mit apokalyptischen Armutsfantasien ist die falsche Antwort. Es gibt intelligente Lösungsvorschläge für fast alle sozialpolitischen Felder. Die Frage ist nur: Halten wir richtige Reformen überhaupt aus? Und: Fürchten sich die Regierenden so sehr vor dem Wähler, dass sie die eigentlich notwendigen Veränderungen gar nicht wagen? Honorieren wir Veränderungen nur dann, wenn es jedem immer besser geht, kann der Wandel nicht funktionieren.
Die Renovierung der Sozialstruktur ist hochkompliziert. Alles hängt voneinander ab und miteinander zusammen, Arbeitsmarkt, Steuer- und Gesundheitssystem, Rente. Keine Reform ohne Effekt im benachbarten Territorium. Hier hilft nur Information. Je mehr ich weiß, desto sicherer fühle ich mich. Aber zu wenige Menschen hören zu, zu wenige lesen genau. Die TV-taugliche 30-Sekunden-Logik der Politiker, man könne dem Volk schwierige Sachverhalte nur in wenigen einfachen Worten erklären, fördert auch nicht gerade die Aufnahmebereitschaft. Dabei, das belegen die Umfragedaten von "Perspektive Deutschland", sind 85 Prozent aller Deutschen für Reformen zu gewinnen.
Wahr ist allerdings auch, dass die Politik aufhören muss, die unerledigten Probleme nur zu verwalten. Mut zur Wahrheit wünscht man sich, was aber auch Mut zu Konsequenzen bedeutet. Würden Regierung und Opposition zwei große Entwürfe vorlegen, über die wir 2006 abstimmen könnten - das wäre ein Ruck! Auch wenn es die Wahl zwischen Pest und Cholera wäre! Sonst modert diese Republik tatsächlich vor sich hin, und es geht uns irgendwann wirklich so schlecht, wie die Stimmung jetzt schon ist.
Schon im Herbst
vergangenen Jahres war klar, dass sich die US-Truppen am Tigris in einen aussichtslosen Kampf verstricken. Das hatte stern-Reporter Christoph Reuter, seit Kriegsbeginn im Irak unterwegs, mit unseren USA-Korrespondenten Michael Streck und Jan Christoph Wiechmann im November 2003 für eine Titelgeschichte aufgeschrieben ("Irak, das neue Vietnam?"). Auch der demokratische Senator Edward Kennedy hat unlängst diesen Vergleich gezogen. Zu Recht. Zwar sind die Ausmaße beider Kriege grundverschieden, aber wie seinerzeit wird die US Army jetzt in einen zermürbenden Guerillakrieg gezwungen, muss sich auf Jahre der Besatzung einstellen, und die Region ist weiter von Stabilität entfernt denn je. Bitter rächt sich nun die Arroganz des US-Präsidenten und seiner mitregierenden Kriegstreiber, die den Irak-Feldzug mit Lügen und Halbwahrheiten wie einen schlechten Markenartikel verkauften, wie unsere USA-Korrespondenten im März berichteten ("Wie Amerika die Welt belog"). Nun platzt der Watergate-Enthüller Bob Woodward mit einer News in den Präsidentschaftswahlkampf, die Bush und seinen Ober-Falken Dick Cheney endgültig bloßstellt: Schon zwei Monate nach dem 11. September beschlossen sie, einen Angriffsplan gegen den Irak ausarbeiten zu lassen. Nicht einmal Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice wusste davon. Weitere spannende Details aus dem Woodward-Buch lesen Sie in dem Bericht über den Bush-Vize Cheney ab Seite 36.
Herzlichst Ihr
Andreas Petzold