Ja, so hatten wir es kommen sehen: Auf Franz Münteferings hoch konzentrierte Kapitalismus-Kritik sollen jetzt uninspirierte homöopathische Maßnahmen folgen. Manager-gehälter offen legen, das Entsendegesetz auf alle Branchen ausdehnen, einheitliche Unternehmenssteuern in allen 25 EU-Ländern, günstige Kreditzinsen für Mittelständler. Eine lose Sammlung hilfloser Gesten, ebenso gut könnte sich Müntefering auf die Gleise legen, um die Kapitalismus-Lokomotive zu stoppen. Falls wirklich jemand gehofft hatte, die SPD würde zu alten Ufern zurückrudern - er wurde vergangene Woche enttäuscht.
Es wäre auch allzu naiv. Denn seit Jahren verfolgt die Regierung Schröder - mit gelegentlichen Umwegen - das Ziel, die Konjunktur auf Wachstum zu programmieren. Der Kanzler löste die verschachtelte Deutschland-AG auf, indem er die Steuern auf Veräußerungsgewinne gegen null drückte. Die Bürger müssen ihre Lebensrisiken mehr und mehr selbst ab-sichern. Rot-Grün verkaufte den Heuschrecken sogar Staatsbetriebe und lässt nun die Unternehmenssteuern auf 19 Prozent plumpsen. Alles in der Absicht, im globalen Wettbewerb Anschluss zu halten. Denn die Alternative, nämlich maßlose Staatsverschuldung und Protektionismus, ist keine.
Anders gesagt: Münte ist Mittäter, gibt nun aber den wortgewaltigen Lordsiegelbewahrer des Sozialstaates. Der Dieb schreit: "Haltet den Dieb!" Wenn, wie demnächst in Nordrhein-Westfalen, ein fulminanter Machtverlust droht, scheint Glaubwürdigkeit zweitrangig zu werden. Müntefering hat die Panik-Taste gedrückt und die Kapitalismus-Granate abgeschossen. Keine parteiinternen Richtungsdebatten gingen voraus. Hätten wir aber drei Prozent Wachstum, würde der SPD-Chef die Agenda 2010 feiern, und alles wäre in sozialer Butter. Stattdessen gibt es fünf Millionen Arbeitslose, quasi als unausweichlicher Kollateralschaden der Globalisierung.
Dies alles entwertet
den Kritiker, aber nicht die Kritik. Die Debatte um die Verantwortung von Unternehmen für das Gemeinwohl einer Gesellschaft ist keineswegs nur eine rhetorische. Sozialer Ausgleich ist auch eine Sache des Bewusstseins. Man muss ihn wollen! Sicher, weder Nationalstaaten, weder Unternehmer noch Manager können sich den Marktregeln erfolgreich widersetzen. Aber die Kapitaleigner daran zu erinnern, dass sie nicht allein auf der Welt sind, das kann auch nicht schaden. Nicht jedes Exemplar dieser Spezies gibt sein Gewissen beim Betreten der Börse an der Garderobe ab. In unserer Titelgeschichte geht es ab Seite 24 nicht nur um die Frage, welche Leitplanken der Staat einbauen kann, um die Marktwirtschaft in die richtige Bahn zu lenken. Der "Wirtschaftsweise" Professor Peter Bofinger und Professor Hans-Jürgen Papier, Präsident des Bundesverfassungsgerichts, machen sich darüber in dieser Ausgabe Gedanken. Die stern-Reporter Arne Daniels und Stefan Schmitz recherchierten derweil mit anderen Kollegen, ob ihre überraschende These zutrifft: Wir sind alle Heuschrecken!