Editorial Irak - bald ein Trauma wie Vietnam?

Schon im Sommer dieses Jahres elektrisierte General John Abizaid, Befehlshaber der US-Truppen im Irak, das politische Washington, als er von einem "Feldzug im Guerillastil" sprach. Auch in Vietnam gab es diese Guerillataktik mit einem unberechenbaren, fast unsichtbaren Feind im Untergrund

Liebe stern-Leser!

Schon im Sommer dieses Jahres elektrisierte General John Abizaid, Befehlshaber der US-Truppen im Irak, das politische Washington, als er von einem "Feldzug im Guerillastil" sprach. Auch in Vietnam gab es diese Guerillataktik mit einem unberechenbaren, fast unsichtbaren Feind im Untergrund. Seitdem die Zahl der getöteten US-Soldaten im Irak von Woche zu Woche anschwillt, geht es in den USA immer häufiger um - das Gespenst "Nam". Der Konflikt im Irak wird vermutlich nicht zehn Jahre dauern und hoffentlich nicht so viele Menschenleben kosten (mehr als 58 000 GIs starben im Vietnamkrieg). Aber das babylonische Abenteuer könnte für Amerika ähnlich enden: mit einem demütigenden Abzug wie 1975 in Saigon. Zwar hat Bush zugesagt, die Staatsführung im Sommer 2004 an irakische Politiker zu übergeben - er muss für seine Wiederwahl irgendetwas vorweisen können. Doch das dürfte nur eine Formalität sein, hinter der noch lange kein stabiles Staatswesen mit einem Gewaltmonopol stehen wird.
Weder Verlauf noch Dimension der beiden Kriege lassen sich vergleichen, möglicherweise aber die verfahrene Situation, die drohende politische Niederlage und das Menetekel eines schmachvollen Rückzugs aus einem Guerillakrieg. Dennoch will der US-Präsident völkerrechtswidrigen Präventivkriegen nicht abschwören, im Gegenteil! Künftig dürfte es allerdings schwer bis unmöglich sein, das amerikanische Volk noch einmal mit einer verlogenen Kriegspädagogik zu manipulieren. Das nächste Mal wird es nicht nur einen Michael Moore geben!
Bush hofft immer noch auf ein Happy End und vergleicht Bagdad lieber mit Berlin: Damals habe man ja auch lange ausgeharrt, und am Ende standen Freiheit und Demokratie. Er vergisst dabei, dass Deutschland mitten im alten Europa liegt, der Irak aber im Pulverfass Nahost. Und die Hilflosigkeit der Amerikaner wirkt auf den Widerstand wie Benzin im Feuer. Ein Guerillakrieg lässt sich - wenn überhaupt - nur gewinnen mit gigantischen Truppenkontingenten und erstklassigen Geheimdienstinformationen. Ohne effektive Spione im irakischen Widerstand bleiben die Amerikaner blind. Doch kaum ein Iraker verrät die Hintermänner der Selbstmordattentate und Mörserattacken - sei es aus Überzeugung oder aus Angst vor Repressalien. Schon Mao Tsetung wusste: "Die Guerilla muss sich im Volk bewegen wie ein Fisch im Wasser." So war es in den vietnamesischen Dörfern, so ist es in den irakischen Städten.
Auch die Verbissenheit, mit der gemordet wird, lässt sich vergleichen: In Südostasien motivierte seinerzeit der Klassenkampf: Kapitalismus gegen Kommunismus hieß die blutige Partie. Im Irak treibt religiöser Fanatismus die Krieger an. Ungläubige haben das Land besetzt, Mohammeds Erben wollen es befreien. Sie strömen in den Irak und töten im Namen Allahs. Und wie in Vietnam prallt der Fanatismus auf widerwillige US-Truppen, die lieber heute als morgen nach Hause fahren wollen. Die Moral bröckelt, die Propagandafront ist nach all den Lügen zusammengebrochen, die amerikanische Presse macht dem Weißen Haus allmählich die Hölle heiß - alles schon mal da gewesen.

Herzlichst Ihr
Andreas Petzold

print