Editorial Schicksalswahl in Amerika

Liebe stern-Leser!

Am kommenden Dienstag wählt Amerika seinen nächsten Präsidenten. Es ist die wahrscheinlich wichtigste US-Wahl nach dem Zweiten Weltkrieg und mit Sicherheit die zurzeit wichtigste Wahl der Welt. In vielen amerikanischen Zeitungen ist es Brauch, den Lesern eine Wahlempfehlung zu geben. Dem stern würde das nicht schwer fallen: Vier Jahre Bush waren nicht gut für Amerika und auch nicht gut für die Welt.

Das Schlimme an einer Wiederwahl von George W. Bush wäre: Er hat aus seinen Fehlern nichts gelernt. Er wird auf Ratschläge aus anderen Ländern weiterhin nichts geben. Er wird seinen "Krieg gegen den Terror" unverändert fortführen, obwohl die Bilanz im Irak verheerend ist. Er wird die rücksichtslose Ausbeutung und Verschmutzung der Erde weiterhin unterstützen, obwohl die Folgen unübersehbar sind. Und er wird die konservative Wende in seinem Land, die ein Klima der Intoleranz und Unfreiheit verbreitet, mit aller Macht vorantreiben. Sein nächster Schritt dafür: die Ernennung von bis zu vier neuen Richtern für den Supreme Court, das höchste Gericht der USA. Sie könnten die Rechtsprechung für lange Zeit prägen.

Über den Irak-Krieg und dessen Folgen wurde im Rest der Welt bislang übersehen, dass Bush auch eine wirtschaftspolitische Revolution angezettelt hat: mit massiven Steuersenkungen vor allem für die Reichen und die großen Unternehmen. Die Folge: ein gigantisches Haushaltsdefizit von 445 Milliarden Dollar. Das Land steuert geradewegs in eine finanzpolitische Krise. Und weil die US-Wirtschaft immer noch die größte der Welt ist, werden wir alle davon betroffen sein. Viele Experten befürchten eine massive Abwertung des Dollar. Das mag gut sein für Shopping-Trips nach New York, ist aber schlecht für den deutschen Export.

Der Wahlkampf hat allerdings gezeigt: Die USA sind nicht nur Bush-Country. Es gibt auch das andere Amerika. Die demokratischen Reflexe funktionieren. Noch nie war die Außenpolitik eines Präsidenten so umstritten - von den letzten Jahren des Vietnamkrieges einmal abgesehen. Noch nie haben sich so viele Wähler registrieren lassen wie in diesem Jahr. Tausende besorgter Bürger, die republikanischen Tricksereien bei der vorigen Präsidentschaftswahl noch in Erinnerung, werden am 2. November vor ihren Wahllokalen wachen, um eventuelle Unregelmäßigkeiten zu verhindern.

John F. Kerry ist der Hoffnungsträger des anderen, des liberalen Amerika. Doch auch er lässt keinen Zweifel daran, dass die USA die Führungsmacht dieser Welt ist. Er wird die Truppen im Irak stationiert lassen. "Wir müssen jetzt siegen", sagt er. Er will zwar die Verantwortung stärker mit anderen Staaten teilen. Aber dafür wird er eben auch ein größeres Engagement fordern, vor allem aus Europa. Und auch aus Deutschland, etwa im Rahmen der Nato. Das wird uns teuer zu stehen kommen.

Dennoch: Mit John F. Kerry würde insgesamt ein versöhnlicherer Präsident im Weißen Haus einziehen. Er ist den Europäern, den Deutschen einfach näher.

Unsere New Yorker Korrespondenten Michael Streck und Jan Christoph Wiechmann haben Präsident Bush und dessen Herausforderer John Kerry auf der Zielgeraden begleitet. Katja Gloger, seit zwei Monaten stern-Korrespondentin in Washington, vergleicht in diesem Heft die Wahlprogramme der beiden. Unsere Titelgeschichte beginnt auf Seite 30.

Herzlichst Ihr
Thomas Osterkorn

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