Wenn deutsche Unternehmer Lohnver zicht und längere Arbeitszeiten fordern, drohen sie gern mit China. Dort könnten sie alles viel billiger produzieren. Doch wie sieht die "Fabrik der Welt" von innen wirklich aus? stern-Korrespondent Matthias Schepp aus Peking und unser in Hongkong lebender Fotograf Michael Wolf hatten bei ihren Recherchen oft das Gefühl, einer kriminellen Vereinigung auf der Spur zu sein. Verschlossene Türen, Ablenkungsmanöver, Beschönigungen. Wolf musste oft zehn Anläufe unternehmen, um ein einziges Bild machen zu können. "Bei den Tochterunternehmen von Konzernen wie Siemens stimmen die Arbeitsbedingungen", sagt Schepp, "in vielen namenlosen Klitschen, in denen europäische Unternehmen über Hongkonger Zwischenhändler Kleider und Elektronik herstellen lassen, herrschen sklavenähnliche Verhältnisse."
Die China-Euphorie vieler deutscher Manager und Politiker betrachtet Schepp mit Skepsis. "In den Siebzigern hieß es, dass die Japaner bald Amerika überholen, in den Achtzigern hatten alle Angst vor den asiatischen Tigerstaaten, in den Neunzigern sollte die New Economy ewiges Wachstum bescheren. Alle Blasen sind geplatzt, alles ist auf Normalmaß geschrumpft", sagt Schepp. "China ist der nächste Ballon, aus dem die Luft entweicht, spätestens im Umfeld der Olympischen Spiele 2008."
Die Gefahren einer Inflation, die enormen Umweltschäden und die Anzeichen einer Energiekrise sind schon heute unübersehbar. Erfahrene China-Analysten warnen ausländische Investoren davor, das Potenzial des 1,3-Milliarden-Menschen-Reiches zu überschätzen. "Das Land ist wie eine halbseidene Dame im Dunkel. Das Dekolleté sieht groß und verführerisch aus. Beim genauen Hinsehen aber ist doch alles ein paar Nummern kleiner", sagt zum Beispiel Jürgen Kracht von der Hongkonger Unternehmensberatung Fiducia.
Für Matthias Schepp ist die Reportage über die neue Wirtschaftsweltmacht China auch eine Art Bilanz seiner fünfjährigen Arbeit als Asienkorrespondent und Abschied zugleich. 1999 hatte er das stern-Büro in Peking eröffnet, nachdem er vorher sieben Jahre lang in Moskau gewesen war. Er wird - nach einem neunmonatigen Außenpolitik- und Managementstudium in Amerika - im nächsten Sommer in die Hamburger stern-Redaktion zurückkehren.
Sein Nachfolger
als Asienkorrespondent mit Sitz in Peking ist Adrian Geiges, der als Fernsehjournalist in Moskau, New York und Hongkong arbeitete und zuletzt für den Verlag Gruner + Jahr, in dem auch der stern erscheint, in China Zeitschriften gegründet hat. Nun schreibt er lieber wieder selbst. Sein erstes Stück befasst sich mit den Intrigen am japanischen Kaiserhof und dem traurigen Schicksal von Prinzessin Masako (Seite 156).
Herzlichst Ihr
Thomas Osterkorn