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Abstimmung in der Schillerschule "Die Eltern wollen G9, die Kinder G8"

Wie fast jedes Bundesland hat auch Hessen eine eigene Lösung für die Zeit bis zum Abitur: Die Schulen entscheiden, ob sie G8 oder G9 anbieten. An einem Frankfurter Gymnasium stimmen die Eltern mit ab.
Von Catrin Boldebuck

Vor der Schillerschule in Frankfurt Sachsenhausen flattern Transparente im Frühlingswind mit Botschaften wie "Max, du stemmst das" oder "Abi 2014: Etti - go for it". Mama, Papa, Judith, ja sogar Oma und Opa bekunden mit handgemalten Herzen und Cartoons ihre Unterstützung. In diesen Tagen werden die letzten Abi-Klausuren in Chemie und Physik geschrieben und in wenigen Wochen werden die Schüler dieses Jahrgangs ihr Reifezeugnis in der Hand halten. Acht Jahre sind sie dafür aufs Gymnasium gegangen.

Drinnen ist die Aula am Abend voll. Fast 200 Eltern sind gekommen, ihre Söhne und Töchter gehen in die sechste oder siebte Klasse. Sie drängen sich in den Stuhlreihen. Die Mütter und Väter wollen sich darüber informieren, wie lange ihre Kinder in Zukunft bis zum Abitur lernen sollen. "In den Klassen gibt es schon Streit", raunt ein Vater. Und eine Mutter sagt: "Die Eltern wollen G9, die Kinder G8."

In Hessen entscheiden seit 2013 die Schulen, ob sie G8 oder G9 anbieten. Die Schillerschule war eines der ersten Gymnasien, das sich für die Rückkehr zu G9 entschied. Anfang März hat nun das hessische Kultusministerium auf Druck von Elterninitiativen wie G9-Wahl.de entschieden, die dafür über 30.000 Unterschriften sammelten, dass nicht nur die fünften Klassen länger Zeit zum Lernen bekommen, sondern auch die sechsten und siebten Klassen – wenn Lehrer und Eltern sich einig werden. Andreas Bartels, Sprecher der Elterninitiative G9-Wahl.de fordert: "Jede Schule sollte verpflichtet sein, die Elternwünsche umzusetzen, wenn sie dazu in der Lage ist." Laut Elterninitiative wird zum Schuljahr 2014/15 nur noch eines von fünf Gymnasien oder Gesamtschulen eine G8-Schule sein.

Pluralismus statt Glaubenskrieg

In der Aula der Schillerschule sitzen vorn auf der Bühne die Rektorin Karin Hechler und ihre Stellvertreter Konrad Gruß und Fachbereichsleiterin Beatrix Weirich. "Wir haben einen lebhaften Abend vor uns", sagt Karin Hechler. "Ich möchte keinen Glaubenskrieg zwischen den Eltern. Es ist wunderbar, dass nicht alles von oben entschieden wird, sondern sie mit entscheiden können. Aber Pluralismus ist auch anstrengend. Wir wollen Ihre Meinung wissen, damit wir in der Schulkonferenz entscheiden können, wie wir weiter vorgehen."

Gemeinsam erklären die drei Pädagogen den Eltern die Möglichkeiten: Entweder es bleibt alles, wie es ist und ab der fünften Klasse gilt G9, oder auch die Klassen sechs und sieben wechseln komplett von G8 zu G9 oder drittens - und nun wird es kompliziert - falls die Eltern sich nicht eindeutig entscheiden, werden in den Stufen sechs und sieben G8- und G9-Klassen eingerichtet. Sollte es dazu kommen, würde es 2019/2020 wieder einen doppelten Abi-Jahrgang geben, weil sich die schnellen Sechstklässler und die langsamen Siebtklässler in der Oberstufe treffen würden.

Vom "Saulus zum Paulus"

In der Mittelstufe sei die Umstellung kein Problem, versichert die Schulleitung, allerdings könnten Probleme in der Oberstufe auftreten: "Es kann passieren, dass wir dann nicht mehr alle Leistungskurse anbieten können", warnt sie. Mindestens 16 Schüler braucht sie für eine Klasse, für die Oberstufe mindestens 60, damit sie ein Kursangebot gewährleisten kann. Schaubilder werden an die Wand geworfen mit Entscheidungswegen, von Schulkonferenz und geheimen Briefwahlen ist die Rede. Auf einer Folie zeigen rote und ockerfarbene Balken unterschiedlich große Gruppen von G8- und G9-Schülern. Manche Eltern schreiben eifrig mit, andere tuscheln, fragen untereinander: "Verstehst du das?"

Vor zehn Jahren war Karin Hechler eine vehemente Befürworterin von G8, sie setzte sich dafür ein, dass ihre Schule Pilotschule wurde. Inzwischen ist sie vom "Saulus zum Paulus" geworden, wie sie sagt. Die Nachteile von G8 überwögen bei weitem die Vorteile von G9. Denn Bildung braucht Zeit, davon ist sie inzwischen zutiefst überzeugt. "Auf dem Schild unserer Schule soll nicht stehen: Wir gehen den kürzesten Weg, sondern wir gehen auch mal abseitige Wege, nehmen uns Zeit. In einer globalisierten Welt brauchen Kinder nicht weniger, sondern mehr Bildung. Und ich bin gegen eine Zwangskasernierung von Kindern durch den Ganztag. Schüler brauchen Räume ohne die Aufsicht von pädagogisierten Erwachsenen. Deshalb sagen wir nicht zurück zu G9, sondern vorwärts zu G9." Dröhnender Applaus von den Eltern in der Schulaula.

Dann beginnt die Diskussion

Eine Mutter steht auf, geht zum Mikro und stellt sich vor: Ihre Tochter geht in die siebte Klasse, zwei ältere Geschwister haben Erfahrung mit G8 und G9 gesammelt. Sie sagt: "Früher war ich für G9, jetzt bin aber der Meinung, man sollte bei G8 bleiben. Ich finde es einen Vertrauensbruch, die Eltern hätten ja nach der vierten Klasse die Chance gehabt, ihr Kind auf einer Gesamtschule mit G9 anzumelden. Ich habe meine Tochter wegen Ihres breitgefächerten Angebots hier angemeldet, das steht jetzt auf wackeligen Füßen." Einige Eltern klatschen.

Ein Vater sagt: "Ich möchte mich für Ihr Engagement bedanken, ich finde es gut, wenn Sie Parallelbetrieb anbieten und es doch noch die Möglichkeit zu G9 gibt. Ich möchte nicht zu G8 gezwungen werden." Donnernder Applaus.

Eine Mutter, Tochter 7. Klasse, möchte wissen: "Noch mal neu zu wählen, finde ich befremdlich. In den Klassen 5, 6 und 7 wurde der Stoff gestaucht. Nun wird er wieder entzerrt. Was ist mit Schülern, die in G8 gut mitkommen? Mit welchem Stoff wird das zusätzliche Jahr gefüllt?"

Manche wollen G9 nur wegen der Freunde

Mutter: "Meine Tochter geht in die siebte Klasse, sie sagt mir: 'Die wollen wieder G9 einführen.' Sie will eigentlich gar nicht G9 machen, würde es aber wegen ihrer Freunde machen." Schulleiterin Karin Hechler sagt: "Die Kinder können nicht abschätzen, was ihnen fehlt. 'Homo Faber' ist Pflichtlektüre in der 9. Klasse. Aber die Schüler verstehen mit 14 bis 15 Jahren den Stoff noch nicht. Sicher können sie das lesen, aber die Auseinandersetzung mit Natur und Technik, die versteht ein 16-Jähriger anders, dazu braucht es Reife."

Vater: "Mein Sohn geht in die 7. Klasse, er kommt gut klar, macht auch seinen Sport. Meine Sorge ist, wenn er jetzt G9 bekommt, dass bei ihm dann der Eindruck entsteht: Für weniger Leistung bekommt man gute Noten. Das zieht sich womöglich durch und ist schlecht fürs Abitur." – "Spinnt der?", fragt eine Mutter ihre Nachbarin in der Stuhlreihe. Die beiden Frauen schütteln den Kopf."Wie ist es mit Bestandsschutz für G8", will der Mann im Anzug noch wissen. Das Land Hessen garantiert für alle Eltern G8 erklärt Frau Hechler.

Die Abstimmung

Eine Mutter mit einem Sohn in der siebten Klasse meldet zu Wort: "Mir ist ein sozialer Aspekt wichtig, der hier noch gar nicht diskutiert wurde: Am Ende der sechsten Klasse gab es Dramen, weil die Klassen neu zusammengesetzt wurden. Jetzt würden mit einem Wechsel ja womöglich schon wieder die Kinder neu gemischt. Aber gerade in der Pubertät brauchen sie Stabilität. Darüber sollte man nicht so hinweggehen."

Nach einer Stunde beendet Schulleiterin Karin Hechler die Debatte, Stimmzettel werden verteilt: Die Eltern der Sechstklässler erhalten himmelblaue Zettel, die Eltern der Siebtklässler orangefarbene. Darauf können sie ankreuzen, ob sie G8 oder G9 wollen. Pro Kind gibt es eine Stimme. Die Eltern stehen auf, sammeln sich in Grüppchen. "Wofür bist du?" - "Hast du schon angekreuzt?" -"Du auch G9? Ach, wie schön!" – "Ich weiß jetzt gar nicht, ob ich taktisch wählen soll". Wie im Bundestag beim Hammelsprung ziehen sie an einem Karton vorbei und werfen ihre Stimmzettel ein.

Die Auszählung am nächsten Tag ergibt folgendes Stimmungsbild: Von den 77 anwesenden Eltern aus der 6. Klasse stimmen 12 für G8, 64 für G9, eine Stimme ist ungültig. Von 89 Eltern aus der 7. Klasse votieren 46 für G8, 42 für G9, eine Stimme ist ungültig. Der stellvertretende Schulleiter Konrad Gruß, 65, sagt: "Damit können wir arbeiten. Ich gehe davon aus, dass der schweigende Rest der Eltern - die nicht kommen konnten oder wollten - will, dass es so bleibt, wie es ist, also G8. Denn wer ein Anliegen hat, der kommt."

Lesen Sie zum Thema auch die Titelgeschichte "Scheiß Schule!" im neuen stern.

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