Eltern brauchen Grenzen Die Dressur zum perfekten Kind

Kinder wollen spielen und nicht ständig gefordert und gefördert werden. Doch viele ehrgeizige Eltern sehen das anders.
Kinder wollen spielen und nicht ständig gefordert und gefördert werden. Doch viele ehrgeizige Eltern sehen das anders.
© Colourbox.de/stern
Eltern bringen alles mit, was ein Kind braucht: wärmende Hände, ein ausdrucksvolles Gesicht, eine abwechslungsreiche Mimik. Doch statt darauf zu vertrauen, entwickeln sie Ehrgeiz - ins perfekte Kind.

Entspannt euch, ihr Flachatmer. Eure Kinder lieben euch, sie brauchen euch, sie vertrauen euch: Ihr habt ihnen das Leben gerettet, als sie nach neun Monaten unversehens aus dem warmen Bauch in eine kalte Welt stießen. Das war wie der Auszug aus dem Paradies. Eure Kinder sind euch ewig dankbar, ihr habt sie in den Arm genommen. Sie lieben mehr, als Erwachsene es je vermögen. "Die Mutter ist Wärme, die Mutter ist Nahrung, die Mutter ist der euphorische Zustand von Befriedigung und Sicherheit", schreibt Erich Fromm in seinem Klassiker "Die Kunst des Liebens". "Das Kind hätte bereits im Augenblick seiner Geburt Angst zu sterben, wenn ein gnädiges Schicksal es nicht davor bewahrte, sich der Angst bewusst zu werden, welche mit der Trennung von der Mutter und von seiner Existenz im Mutterleib verbunden ist. Diese Erfahrung ist passiv: Ich brauche nichts dazu zu tun, dass ich geliebt werde."

Eltern müssen sich nicht sorgen, dass sie nicht lieben können. Uns ist die Fähigkeit der Zuneigung angeboren: Wir nähern uns Neugeborenen vorsichtig und mit einer angemessenen Langsamkeit, ahmen Bewegungen und Laute des Kindes nach und spiegeln sein Verhalten. Es ist das evolutionäre Programm, das unsere Augen groß und unsere Mimik überdeutlich werden lässt, und wir ein zufriedenes Gurren erwidern. Diese Momente der Verbundenheit vertragen keine Aufregung. Sie müssen gehegt und gepflegt werden und sind zerbrechlich, wenn die Mutter besorgt oder ängstlich ist und sich diese Angst auf das Baby überträgt. Es ist hinreißend, wie Mutter und Kind später immer wieder Zärtlichkeiten austauschen und der eine auf den anderen reagiert. Dann sind "Spiegelneuronen" aktiv, Nervenzellen im motorischen Hirnbereich, der unsere Bewegungen steuert. Sie spiegeln unser Verhalten. Was andere tun, wollen wir auch tun, was andere erleiden, empfinden wir mit. So entsteht Mitgefühl.

Eltern bringen alles mit, was ein Kind braucht

Auch ein Hormon sorgt für tiefste Gefühle engster Verbundenheit. Dieses Oxytocin verantwortet die Kontraktion der Gebärmutter bei den Geburtswehen und wird auch "Bindungs"- oder "Liebeshormon" genannt. Über die Nabelschnur gelangt es in das Gehirn des Kindes. Später wird es beim Stillen ausgeschüttet und stärkt Nervenverbindungen, die das Gefühl von Hingabe und Geborgenheit ermöglichen. In Tests mit Erwachsenen hat sich gezeigt, dass eine vermehrte Ausschüttung von Oxytocin Menschen auch spendabler macht. Nicht umsonst spricht man bei der Geburt vom Geschenk des Lebens.

Eltern bringen alles mit, was ein Kind braucht: wärmende Hände, ein ausdrucksvolles Gesicht, eine abwechslungsreiche Mimik. Ein Kind verlangt nicht nach mehr Geborgenheit, als es braucht. Mit der Geburt hat es die Erfahrung gemacht, sich aufgehoben zu fühlen. Und wer seinen Kindern weiter vertraut, auf eigenen Beinen zu stehen und spielend die Welt zu entdecken, schafft die besten Voraussetzungen für sattes Leben.

Eine elende Dressur

Eines der beliebtesten Bücher aus dem Gleichmacher-Fundus heißt "Jedes Kind kann schlafen lernen". Verhaltenstherapeuten legen in diesem Buch fest, wie lange Eltern ihr Kind schreien lassen sollen, bis sie es endlich auf den Arm nehmen und trösten dürfen. Eine halbe Million Eltern haben dieses Einschlaf-Beschleunigungsprogramm durchgeackert und ihre Kinder nach Minutenangaben abgerichtet. Ich habe es leider auch mitgemacht und erinnere mich mit Schrecken an die Nächte, in denen ich vorgegebene Zeiten stoppte, um dann, Programm ist Programm, abzuwarten, ob mein Sohn sich beruhigt oder weiter nach Liebe japst. Wenn er wieder aufwachte, blickten wir kurz durch die Tür, ob er richtig liegt, um keine Hoffnung auf weitere Aufmerksamkeit zu wecken und waren froh, wenn er in einem vertretbaren Zeitrahmen erschöpft wieder einschlief.

Eine elende Dressur ist das, wenn Maßeinheiten festgelegt werden, ab wann Kinder ihre Eltern nur belästigen wollen oder sich wirklich in Not fühlen. Dann wird leise gezählt, bis die Zeit reif ist für das Selbstverständlichste auf der Welt: seinem Kind das Gefühl zu geben, nicht verlassen zu sein. Jedes fünfte Kleinkind wacht nachts auf, ohne dass darüber ein Buch geschrieben werden muss. Einfach so, wie auch kein Erwachsener durchschläft. Aber wenn die Bedürfnisse des Kindes nicht die Erwartungen der Eltern erfüllen, hat es ein Problem. Und wird zu einem Problem-Kind. Wie umgekehrt auch den Eltern ein schlechtes Gewissen eingebläut wird, sollte die Aufzucht misslingen. Ich will, du wirst, es soll: Kinder werden nicht groß, weil die Eltern sich das wünschen. Oder Einfluss darauf haben. Kinder entwickeln sich aus sich heraus, wenn sie nicht geschlagen, drangsaliert, traumatisiert werden. "What a man can be, he must be", sagt der amerikanische Psychologe Abraham Harold Maslow. Was ein Mensch werden kann, das muss er werden.

Kinder haben ihr eigenes Tempo

Der Züricher Kinderarzt Remo H. Largo stellte fest, dass auch die motorische Entwicklung bei Kindern unterschiedlich verläuft. Mit fünf bis sieben Monaten dreht sich das Kind vom Bauch auf den Rücken und etwas später auch vom Rücken auf den Bauch. Mit sieben bis zehn Monaten robbt es auf den Bauch und kriecht auf Händen und Knien. In den Monaten danach versucht das Baby, mit Händen und Füssen zu gehen, was eine ungeheure Anstrengung ist, um danach endlich auf eigenen Beinen zu stehen. Immer wieder fällt es hin, immer wieder steht es auf.

Verläuft die Entwicklung nicht so, geraten viele Eltern in Panik und rennen zum Arzt. Ein guter beruhigt die Eltern und bittet sie um Geduld, ein schlechter Mediziner verschreibt dem Kleinen die erste Therapie seines Lebens. Remo H. Largo, Vater dreier Töchter und Professor für Kinderheilkunde, stellte fest, dass etwa 13 Prozent aller Kinder Stadien der Entwicklung auslassen. Sie robben nicht, sie kriechen nicht, sie setzen sich stattdessen auf ihren Hosenboden und rutschen herum. Wie Largo herausfand, bewegten sich bei 40 Prozent dieser Kinder auch Vater oder Mutter so in jungen Jahren. Das Sitzen auf dem Hosenboden war also vererbt. Warum, fragt der Kinderfreund Largo, "sind wir gegenüber Kindern so intolerant? Warum verlangen wir ihnen mehr ab, als wir selbst zu leisten imstande sind? Weshalb reiten wir als Eltern und Fachleute auf den Schwächen der Kinder herum?"

Förderung von der Nabelschnur an

Natürlich können Eltern ein Kind dressieren, mit neun Monaten zu laufen, mit vier Jahren zu lesen und mit fünf drei Sprachen zu beherrschen. In der Berliner Filiale der amerikanischen Bildungskette FasTracKids unterrichten Englischlehrer dreijährige "Überholspurkinder" nicht nur in Mathematik und Kunst, sondern auch in Kommunikation, Rhetorik und Marketing. Was wie ein schlechter Scherz klingt, ist Konzept: frühe Förderung "von der Nabelschnur an", wie eine Mutter sagt. Dass sich ihr Sohn nur noch ein Bett wünscht, weil er vom Pauken müde ist, hält sie für eine eher lästige Begleiterscheinung.

Hat der große Denker Schopenhauer nicht gesagt, Kinder seien kleine Genies? Na also. In einer Aufsehen erregenden Studie wies zum Beispiel die amerikanische Psychologin Karen Wynn nach, dass bereits fünf Monate alte Babys eine Ahnung vom Rechnen haben. Das war die Versuchsanordnung: Karen Wynn platzierte eine Puppe auf einer kleinen Bühne. Dann zog sie den Vorhang zu. Zeigte eine zweite Puppe und versteckte auch diese hinter dem Vorhang. Wenn sie den Vorhang entfernte und nur zwei Puppen zu sehen waren, verloren die Säuglinge schnell das Interesse und schauten weg. War hingegen nur eine Puppe da, starrten sie lange darauf; so, als rechneten sie nach. Die Schlagzeile "Babys können addieren" ging um die Welt.

Gerald Hüther und Uli Hauser

"Jedes Kind ist hoch begabt"
Albrecht Knaus Verlag
Taschenbuch, 9,99 Euro

Der Leistungsvorsprung hält nicht an

Über solche Meldungen können Entwicklungspsychologen nur milde lächeln: Zweijährige Kinder zählen vielleicht Zahlen auf, zwei, sechs, sieben, neun, zehn. Doch ein Verständnis für Zahlen entwickeln sie erst mit vier oder fünf Jahren. "Was derzeit passiert", sagt der Göttinger Neurologe Gerald Hüther, "grenzt an gigantische Hysterie. Es wird ohne Sinn und Verstand gefördert, auch Fähigkeiten, für die das kindliche Gehirn noch gar nicht reif ist, und die nur den Vorstellungen ehrgeiziger Eltern entsprechen. Gesunde Kinder lernen von ganz allein. Sie legen sich die Latte immer selber ein kleines Stückchen höher, ohne dass es jemand von ihnen erwartet."

Ob sich der Besuch eines unterrichtsorientierten Vorkindergartens für Drei- und Vierjährige günstig auf späteres Lernen auswirkt, untersuchten Wissenschaftler des amerikanischen National Bureau of Economic Research. Sie fanden heraus, dass diese Kinder in der ersten Klasse im Vorteil waren. Am Ende des ersten Grundschuljahrs hatten sie ihren Leistungsvorsprung bereits wieder eingebüßt. Viele von ihnen mussten die vierte Klasse wiederholen, weil manche Fähigkeiten zu Lasten einer anderen gingen. "Haben. Sein. Und gelten. Dass einer alles hat, das ist selten", dichtete einst Kurt Tucholsky.

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