Das Mädchen brachte keinen Ton mehr heraus. Immer wenn es etwas sagen wollte, kam – nichts. Die Schülerin war zwölf Jahre alt; ein Alter, in dem es besonders darauf ankommt, in der Klasse beliebt zu sein und sich mit klugen Beiträgen zu Wort zu melden. Zu alldem hatte sie nicht mehr die Chance, sie war einfach verstummt. Warum, dafür hatte sie keine Erklärung.
Als sie zum ersten Mal in meine Praxis kam, fielen mir sofort ihr tieftrauriger Gesichtsausdruck und ihre hängenden Schultern auf. Meinem Blick wich sie aus. Andere Kinder gucken normalerweise sehr offen. Das Mädchen war dicklich, sein Körper veränderte sich gerade durch die Hormone. Und es war sehr unsicher. Als es zu mir kam, litt es bereits seit sechs Monaten unter dem Stimmverlust, mehr als ab und zu ein Flüstern war ihm nicht geblieben.
Einfach verstummt
Bestimmt eine hartnäckige Erkältung, hatte der Hausarzt getippt und ein Antibiotikum verordnet. Vier Wochen lang schluckte das Mädchen die Tabletten, doch die Stimme war noch immer verschwunden. Der Hausarzt blieb ratlos zurück und schickte das Mädchen zu einem Hals-Nasen- Ohren-Arzt. Der Kollege untersuchte die Patientin und stellte eine Kehlkopfentzündung fest. Er verschrieb ein weiteres Antibiotikum, das wiederum nicht anschlug. Der Haus- und der HNO-Arzt hatten sich auf die physischen Merkmale des Kehlkopfs konzentriert, doch das reichte offenbar nicht.
Ein Logopäde zeigte dem Mädchen wochenlang Atem- und Stimmübungen. Ohne Erfolg. Den Alltag konnte das Kind nicht mehr meistern. Sobald man stumm ist, wird man vergessen. Die Patientin zog sich immer weiter zurück, wurde gehänselt und brachte schlechte Noten nach Hause. Die Lehrer gaben es schnell auf, auf die verstummte Schülerin einzugehen. Bei solchen Patienten wächst mit jeder Woche der Tonlosigkeit die Sorge, dass die Stimme nie mehr zurückkommt.
Zur Autorin
Roswitha Berger, 65, ist HNO-Fachärztin an der Uniklinik Gießen-Marburg und hat sich auf Phoniatrie und kindliche Hörstörungen spezialisiert
Es konnte keinen Ton geben
Mir ist als Hals-Nasen-Ohren-Ärztin klar: Die Wörter "Stimme" und "Stimmung" sind nicht umsonst miteinander verwandt. Da gibt es eine starke Verbindung, und Stimmärzte entwickeln dafür eine besondere Sensibilität. Deswegen ist mir die Traurigkeit des Kindes sofort aufgefallen. Ich vermutete, dass die auch etwas mit dem Stimmverlust der Patientin zu tun haben könnte.
Bei der Untersuchung mit einem Video-Endoskop sah ich, dass die Ritze zwischen den Stimmlippen sich nicht schloss. Deshalb konnte es keinen Ton geben. Als ich das Mädchen bat zu husten, war das hingegen tönend. Damit war klar: Die Stimmlippen waren nicht gelähmt. Auch der Kehlkopf wies keine Zeichen einer Entzündung auf. Nun war ich mir sicher: Das Mädchen litt an einer psychisch bedingten Tonlosigkeit, einer Aphonie, ausgelöst durch irgendein seelisches Trauma.
Die Bosheit der anderen war schuld
Ich zeigte der Patientin, wie sie mit Glucksern und Summen die Stimme lockern kann. Meine Hand hielt ich dabei an ihren Kehlkopf, die Halsmuskeln waren gespannt wie ein Flitzebogen. Nach einer Viertelstunde kam der erste Ton, kurz darauf war ihre Stimme stabil. Die ersten Worte seit einem halben Jahr!
Dann erzählte sie: vom Mobbing im Klassenzimmer, von der Bosheit der anderen. Ihre schüchterne Art schien die Gemeinheit der anderen geradezu zu befeuern. Vor allem eine Mitschülerin stachelte die Klassenkameraden auf. Auf der Klassenfahrt duschten die Schülerinnen zusammen, die Blicke fielen auf die wachsenden Brüste des Mädchens, die anderen machten sich lautstark darüber lustig. In dem Moment verlor meine junge Patientin ihre Stimme. Sie erinnerte sich haargenau an diese Szene, in meiner Praxis wurde sie sofort wieder traurig. Ihr Selbstbewusstsein war am Boden. Das Kind hatte sich nichts mehr zugetraut und gedacht, alles, was es tut, sei falsch.
Arbeit am Selbstvertrauen
Dass es seine Stimme wiederbekommen hat, war nur ein erster Schritt zu mehr Selbstvertrauen. Die besorgten Eltern habe ich beraten und ihnen klargemacht, dass ihre Tochter selbstsicherer werden sollte. Ich habe das Kind ermutigt, mit Tanzen oder Kampfsport anzufangen oder vielleicht zu töpfern. Dabei würde es lernen: Ich schaffe das.
Dieser Artikel stammt aus dem stern, Nr. 15, vom 03. April 2014