leipzig Haft mit Freigang und Ausblick

Betrachtungen zum Karzerwesen der Universität Leipzig

Betrachtungen zum Karzerwesen der Universität Leipzig

Na, vergangene Woche wieder »groben Unfug« gemacht und Gaslaternen ausgelöscht, Werbeschilder entfernt oder mit nächtlichem Klingeln brave Bürger aus dem Nachtschlaf gerissen? Dann ab in den Karzer!

Nein, den gibt es nicht mehr, auch an der Universität Leipzig nicht. Schade eigentlich, denn die Existenz eines Karzers ist Ausdruck einer der wichtigsten akademischen Grundfreiheiten, die die alma mater Lipsiensis mit ihrer Gründung im Jahr 1409 erhielt: des Rechts auf eigene Gerichtsbarkeit. Und für die Studenten war es bis weit ins 19. Jahrhundert hinein Ehrensache, wegen eingangs erwähnter kleiner Delikte der »öffentlichen Ruhestörung«, für ein paar Tage im Karzer zu sitzen. Strafbar war übrigens außerdem der »unsittliche Lebenswandel«, der sich im »Umherziehen in Schanckwirthschaften«, in »Trunckenheit«, »Urinieren auf der Straße« und »unsittlichem Verkehr mit einer Frauensperson« äußerte. »Mit den Streichen demonstrierten die Studenten ihre Unabhängigkeit gegenüber dem spießigen Bürgertum und der Ordnungsmacht. Sie nahmen die Karzerhaft gern in Kauf«, erzählt Kunsthistorikerin Cornelia Junge von der Kustodie der Universität Leipzig lachend.

Das Lachen verging auch den Bestraften selten, denn sie fristeten in den Leipziger Karzern ein recht angenehmes Dasein. Ihre Haft in diversen Abstellkammern der Dachgeschosse der Uni - denn eigenständige Karzerbauten gab es nicht - konnten die Studenten antreten, wann immer sie wollten. Jedoch ganz bestimmt nicht im Winter, da die Karzerräume nicht beheizbar waren. Meist genossen sie sogar einen wunderschönen Blick über die Stadt Leipzig - zuweilen aber auch in die Pathologie . . .

Im »Carcer-Buch«, einer der Quellen zum Karzerwesen, die sich unter den Schätzen des Universitätsarchivs finden, kann man heute noch in sieben Spalten minutiös »Anfang und Ende« sowie »Dauer und Grad« der angetretenen Haftstrafen ablesen. Außerdem wurden natürlich Namen, Studium und Geburtsort vermerkt. Viele Schlüsse über das damalige studentische Leben mit dem und im Karzer können aus dem Buch gezogen werden. »So ist es sicher, dass Karzerhaft in Leipzig eigentlich nie Einzelhaft bedeutete, dass es auf Ehrenworte hin Haftunterbrechungen gab und dass der Karzer für Spaziergänge und den Besuch von Vorlesungen ohnehin verlassen werden konnte«, bestätigt Cornelia Junge.

Na, und die verbleibende Zeit im kargen Raum mit vergitterten Fenstern namens Karzer versuchten die Studenten natürlich so »nutzbringend« wie möglich zu verbringen: sie ritzten allerlei in Karzertische ein - einer davon befindet sich übrigens bis heute im Kunstbesitz der Uni Leipzig - und schrieben ein 200-seitiges Heftchen mit dem Titel »Brummkäfer oder die Musen in carcere blae« voll. Sehnsuchtsvolle Gedichte für unerreichbare Geliebte, spöttische Gesänge, aber auch Loblieder auf die Universität treiben dem Lesenden Freuden- oder Jammertränen in die Augen. Und in mehreren Fortsetzungsfolgen geschriebene Theaterstückpersiflagen laden zum Weiterschreiben ein - vielleicht in der nächsten Karzerhaft? Nein, wie gesagt, die gibt es nicht mehr: an der Universität Leipzig wurde zuletzt 1934 der Jurastudent Walter Habel aus Zittau zu Karzerhaft verurteilt - er brauchte sie aber schon nicht mehr anzutreten. (ah)

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