AUSSTELLUNG Biennale Venedig

So spannend war sie schon lange nicht mehr: Auf dem schönsten Ausstellungsgelände der Welt präsentiert sich zeitgenössische Kunst diesen Sommer in spektakulären Pavillons, pittoresken Werfthallen und unter freiem Himmel von ihrer aufregendsten Seite

Von Anja Lösel

Zauberhafte Gärten, extravagante Pavillons, uralte Werfthallen an der Lagune: Die Biennale von Venedig hat ohne Zweifel das schönste Ausstellungsgelände der Welt ? und das seit über 100 Jahren. Die Kunst geriet vor dieser grandiosen Kulisse schon mal ins Hintertreffen. Diesen Sommer allerdings übertrifft die Biennale sich selbst. So aufregend, eigenwillig und anregend war Kunst schon lange nicht mehr.

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Zu verdanken hat sie das dem Schweizer Ausstellungsmacher Harald Szeemann. Der möbelte die alte Dame Biennale ordentlich auf, verpasste ihr ein Facelifting und eine Frischzellenkur ? und verblüfft nun mit der spannendsten Schau des neuen Jahrtausends. Einziger Nachteil: Es gibt so viel zu sehen, dass ein Tag zur Besichtigung nicht ausreicht.

Schon am Eingang zu den Giardini, den schattigen Gärten an der östlichen Spitze der Stadt, locken Gaukler, Performance-Künstler und allerhand schräg Kostümierte die Besucher. Silbern gewandete Artisten stolzieren auf Stelzen umher, ein japanischer Techno-Selbstdarsteller zeigt sich jeden Tag in einem neuen Kostüm, eine fette amerikanische Sex-Workerin fordert lautstark mehr Rechte für Prostituierte.

Im Inneren dann die wahre Kunst: 32 Nationen präsentieren in festen, alle zwei Jahre wieder verwendeten Länderpavillons jeweils einen oder mehrere Künstler. Der Besucher flaniert von Haus zu Haus und lässt sich einfangen, betören, bezaubern ? oder auch ärgern, verstören, verwirren.

Deutschland lieferte in diesem Jahr den verwirrendsten, aber auch faszinierendsten Beitrag ? prämiert mit dem Goldenen Löwen für den besten Länderbeitrag. In den Pavillon, der noch aus der Nazizeit stammt, hat der Künstler Gregor Schneider, 32, sein »Totes Haus ur« gebaut: ein verstörendes Gebilde aus engen Fluren, schmuddeligen Zimmern, toten Winkeln, gruseligen Kellern, verschlossenen Türen, Fenstern ohne Ausblick, doppelten Wänden und einer Decke, die sich unmerklich hebt und senkt.

Mehr als zehn Jahre lang baute der blasse, blonde Künstler daran herum. Um das Innere des Gebäudes aus dem heimischen Rheydt nach Italien zu verfrachten, mussten in dreimonatiger Arbeit 100 Tonnen Material in zehn Lastwagen an die Adria geschafft werden. Die Biennale-Besucher danken Schneider die Mühe mit überschwänglicher Begeisterung: An guten Tagen kann die Schlange vor dem deutschen Pavillon schon mal 800 Meter lang werden. Wartezeit: zwei bis drei Stunden.

In den ersten Tagen saß der Künstler unsichtbar in den Eingeweiden des Pavillons und lauschte, was da vor sich ging in seinem »Haus ur«. Wie die Leute umherirrten, gegen Türen pochten, Fenster öffneten, die ins Nichts führen, Treppen hinunterpolterten, an verschlossenen Türen rüttelten. Manche stürzten durch den Notausgang ins Freie, weil sie es nicht mehr aushalten konnten in der bedrückenden Enge. Manche bahnten sich eigene Wege und brachen Türen auf.

Fast alle kamen verstaubt und verknittert zurück von ihrer Abenteuertour. Einige auch mit Schrammen und Beulen. Mehrere Verletzte mussten im kleinen Erste-Hilfe-Raum behandelt werden, der im hinteren Teil des Pavillons eingerichtet wurde. »Die Leute tragen ihre Blessuren mit Stolz«, erzählt Schneider.

Aber auch in den übrigen Pavillons gibt es Bemerkenswertes zu entdecken. Kanada bietet ein Mini-Kino von Janet Cardiff und George Bures Miller mit witzigen Spezialeffekten. Frankreich lädt in einen nächtlichen Schneesturm (je ein Spezialpreis für Janet Cardiff und George Bures Miller sowie für Pierre Huyghe).

Im Pavillon der Schweiz empfängt der Künstler Urs Lüthi, 53, im neckischen Jogging-Dress ? lebensnah abgebildet aus Kunststoff. Daneben steht er selbst ganz lebendig im grauen Anzug: »Art for a better life« nennt er seine Arbeit. Belgien zeigt die wunderschönen Gemälde von Luc Tuymans, die sich mit der unrühmlichen Kolonialvergangenheit des Landes auseinander setzen. Im spanischen Pavillon glitzert, singt und klirrt eine Decke aus Tausenden von Glaskolben; Ungarn verleiht motorradähnliche Art-Mobile, in denen sich verliebte Paare übers Gelände treiben lassen. Russland zeigt die wunderbar poetischen Fotos von Olga Chernysheva: alte Damen im Pelzmantel, die sich wie dicke, behäbige Tiere durch die Metro bewegen.

Viele Nationen haben keinen eigenen Pavillon und weichen deshalb auf Palazzi, Kirchen und Museen der Stadt aus. Die größte Attraktion aber ist das Arsenale, ein ehemaliges Militärgelände mit grandiosen Werften, Lagerhallen und Docks, die zum Teil über 400 Jahre alt sind. Viele davon hat Szeemann erst kürzlich für seine Schau »Plateau der Menschheit« mit 112 Künstlern aus 69 Ländern wieder geöffnet.

Weil Szeemann mutig ist, stellte er seiner Ausstellung ein selbst gebasteltes Kunstwerk voran. Sein »Vorwort ohne Worte« ist eine Art gebautes Statement. Naive Skulpturen stehen da auf einem Podest neben indischen Bronzen und einem erotischen Tempelfries aus Tanjore. Ein alter Taucherhelm ruht neben einer afrikanischen Figur mit dem Titel »Aids Killing«. Der Westen ist nur ein kleiner Teil der Welt, so die Botschaft: Es gibt noch viele andere Regionen auf der Erde, und wir müssen lernen, auch dort hinzusehen, Anteil zu nehmen an fremden Schicksalen.

Im Video von Anri Sala aus Tirana etwa sitzt ein Mann mit schäbigem Mantel in einer Kirche, in sich zusammengefallen, traurig, von niemandem beachtet. Immer wieder sackt er zur Seite, rappelt sich wieder hoch, sinkt erneut zusammen ? ohne dass sich irgendjemand um ihn kümmert. Ein grausam-eindringliches Abbild von Armut und Einsamkeit.

Rührend und traurig die Fotos des Russen Viktor Maruschtschenko. Er zeigt Bilder aus Tschernobyl 1991, die auf den ersten Blick alltäglich wirken und das Grauen der schädlichen Strahlung nur ahnen lassen: zwei tanzende Mädchen. Ein Grab. Eine Frau, die stolz eine Schüssel mit Pilzen zeigt. Und ein alter Mann mit zwei Eimern voller Äpfel.

Die eindringlichen Schwarzweißfotos des Schweizer Polizisten Arnold Odermatt zeigen fast idyllisch die Schauplätze von schweren Autounfällen ? ganz ohne Menschen und ohne jeden Gruseleffekt. Da wird ein auf dem Dach liegender VW-Käfer zu einer Skulptur in der Landschaft, und ein um einen Pfahl gewickelter Mercedes wird zu einem Monument fatalen Fortschritts.

Susan Kleinberg aus New York interviewte zwei Jahre lang Menschen wie den US-General Norman Schwarzkopf, den italienischen Politiker Silvio Berlusconi oder die Fiat-Erbin Susanna Agnelli zum Thema: Was ist Courage? Und erhielt erschreckend enthüllende Antworten wie die von Norman Schwarzkopf: »Ich will nicht sterben, ich will unsterblich sein.«

Fiona Tan fand alte Filmaufnahmen aus Afrika, China und Indonesien, die so genannte Eingeborene wie Vieh vorführen. Sie müssen sich drehen und wenden vor der Kamera, ihre Tellerlippen werden bestaunt und ihre Kleidung aus Blättern und Kürbisschalen.

Aber auch um den unersättlichen Kunstbetrieb geht es. Weil es Szeemann immer wieder gelingt, sich von dessen Moden und Zwängen unabhängig zu machen, kann er unbekannte Künstler entdecken, die sich lustig machen über Galerien und Museen. So entwarf der Israeli Eliezer Sonnenschein für die Biennale von Venedig einen umwerfend komischen Plan einer perfekten Künstlerkarriere: von der Kunstschule bis zum Künstlerhimmel. In seinen respektlosen, knallig bunten Computerbildern springen Galeristen als Geld kackende Schweine umher, die Eltern schwimmen als stolze Schwäne durchs Meer der Ausstellungen. Und über allem thront Harald Szeemann als der »Super Heilige Ausstellungsmacher«.