Von dem strahlenden Sonnenschein, der Havanna an diesem Januartag in Postkartenidylle taucht, ist in den Büroräumen des kubanischen Industrieministers Ernesto "Che" Guevara nicht viel zu spüren. Durch die heruntergelassenen Jalousien gesellt sich nur etwas milchiges Tageslicht zu den schmucklosen Deckenlampen. Der Staatsmann im olivgrünen Drillich, dekoriert mit Vollbart und qualmender Havanna, empfängt heute - revolutionär - westliche Reporter: Die bekannte Journalistin Laura Bergquist, eine scharfsinnige und gleichermaßen direkte wie attraktive Frau, und der Schweizer Fotoreporter René Burri, ideologisch unbedenklich weil neutral, ein einfühlsamer Beobachter, einer, der es versteht, sich unsichtbar zu machen. Gerade hat er seinen grenzüberschreitenden Bildband "Die Deutschen" herausgebracht und damit viel Beachtung gefunden, seit 1959 gehört er der bekannten Agentur MAGNUM an.
Arroganz und Anspannung
Zurückgelehnt, selbstbewusst zwischen Arroganz und Trotz balancierend, mustert Guevara seine Interviewpartnerin. Die lässig im rechten Mundwinkel klemmende Havanna ist wohl gerade erst angezündet, erste Fetzen kräftigen Tabakrauchs schweben aus der Glut. Im Hintergrund zeichnen sich schemenhaft die Lamellen der Jalousien ab, versteckt der große Revolutionär sich? Ist das Büro dem Freiheitskämpfer ein goldener Käfig?
Burris Frage, ob er etwas Licht hereinlassen dürfe, wird zumindest barsch niedergeschmettert: Die Jalousien bleiben zu! Ché Guevara, die kraftstrotzende Ikone einer märchenhaften Revolution, scheint getrieben, nervös, geradezu eingesperrt. Aus den Wäldern Sierra Madre ins Büro, von der Schlacht an den Schreibtisch, ist das hier seine Welt? Biografen haben immer wieder Guevaras Unzufriedenheit mit seinen Rollen als Präsident der Nationalbank und Industrieminister in Kubas neuer sozialistischer Regierung angedeutet. .
Sozialistisches Heiligenbild mit dunkler Zukunft
Ohne Blitz und mit den klassischen Festbrennweiten 35, 50 und 85 mm dokumentiert Burri das dreistündige Gespräch, sechs Filme wird er in diesen Stunden füllen. Zeitgeschichte in Schwarzweiß: Che Guevara auf dem Höhepunkt seiner politischen Macht, zugleich aber auch ein sozialistisches Heiligenbild auf dem Weg in die Versenkung. Nur zwei Monate später geht der argentinische Überzeugungstäter in den Untergrund, will die Revolution nach Afrika und nach Südamerika tragen. Zuvor hat er sich mit seiner Kritik an der UDSSR innenpolitisch ins Abseits manövriert, der Staatsmann Che Guevara ist in der Krise. 1967 bezahlt er sein Engagement mit dem Leben: Der Kampf für die revolutionäre Sache in Bolivien ist gescheitert, die Guerillia-Kräfte in Gefechten mit Regierungstruppen aufgerieben und Guevara wird Anfang Oktober gefangen genommen, sein Schicksal ist damit besiegelt. Die bolivianische Armee - mit ihr auch die Vereinigten Staaten, die sie im Geheimen unterstützen - erzielen damit einen großen Erfolg an einer der vielen versteckten Fronten des kalten Krieges: Mit Che Guevara fällt ihnen die Leitfigur der südamerikanischen Revolutionsbewegung in die Hände. Sie zögern nicht lange, ihn zu beseitigen. Der Rebell wird unter anderem von der CIA verhört und wenige Tage später, am 9. Oktober, hingerichtet, sein Leichnam verscharrt. Am Ende sind es die 68er, die den radikalen Revoluzzer zum marxistischen Märtyrer stilisieren. Auch für Andreas Baader, Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin und einige andere wird er damit zur Leitfigur. 1970 gründen sie die RAF, Deutschland und die Welt lernen eine neue Form des Krieges kennen: Terrorismus.
René Burris Bilder nähren den Mythos Che und zählen bis heute zu den bekanntesten Aufnahmen des "kompletten Fotografen" - zusammmen mit Alberto Kordas Portraits des Revolutionärs verankern sie die sozialistische Ikone Guevara im Bildererbe des 20. Jahrhunderts.