Grobkörnig, unscharf, schemenhaft wie ein ungelenker Holzschnitt und doch einfach nur wunderschön und ein wichtiges Stück Geschichte. Der "Blick aus dem Arbeitszimmer" zeigt Niepces Anwesen im Burgund: Rechts das Dach der Scheune, links Taubenhaus und Backhaus, ganz links erkennt man schemenhaft den linken Fensterflügel.
Seit 1801 bewohnt der erfinderische Zuckerfabrikant den Familiensitz im kleinen Dorf Saint-Loup-de-Varennes. Niepce ist ein leidenschaftlicher Tüftler, entwickelt zusammen mit seinem Bruder leider erfolglos einen Verbrennungsmotor, konstruiert ein Fahrrad und sucht neue Farbstoffe. Ab 1816 ist er von der Idee der Heliographie - Zeichnen mit Licht - besessen, er will die flüchtigen Bilder der Camera Obscura dauerhaft fixieren.
Acht Stunden Belichtung
1822 gelingt ihm der Durchbruch: Nach zahllosen Experimenten findet Nicéphore mit Asphalt das richtige Medium für sein Vorhaben. Zur Vervielfältigung von Kupferstichen ist das Verfahren schon länger gebräuchlich. Unter Lichteinwirkung härtet das Material aus, die Schatten bleiben flüssig und können hinterher ausgewaschen werden. Das Ergebnis ist eine simple Druckplatte. Trotzdem dauert es noch Jahre, bis er die erste Heliographie erstellt. 1827 hält er sein erstes Direktpositiv in den Händen: 16,5 x 20,5 Zentimeter groß und länger als acht Stunden belichtet, zeigt es den Blick aus Niepces Arbeitszimmer ins sommerliche Burgund.
Erwartung und Enttäuschung
Später im gleichen Jahr besucht Nicéphore Niepce seinen erkrankten Bruder, der bei London lebt. Er lernt den britischen Botaniker Francis Bauer kennen. Er ist von seinen heliografischen Versuchen begeistert ist und schlägt einen Bericht an die renommierte Royal Society vor. Stolz verfasst der Franzose seinen Text und bereitet seine Präsentation vor.
Aus Angst um sein Geheimnis vermeidet er präzise Angaben zum Verfahren, die Akademie weist seinen Bericht deswegen zurück. Maßlos enttäuscht - um seinen Ruhm betrogen - reist Niepce ab. Die Arbeitsproben und Aufzeichnungen überlässt er Bauer, der sie, wohl um ihre Bedeutung wissend, gut verwahrt: "Monsieur Niepces first successful experiment of fixing permanently the image from Nature", vermerkt er auf der Rückseite des Blicks aus dem Fenster.
Später Ruhm
Nach Bauers Tod wechselt das Bild mehrfach den Besitzer, verschiedene Akademiemitglieder und Fotografen nehmen es an sich. Zuletzt taucht die Aufnahme im Rahmen einer Fotoausstellung 1898 auf, dann verliert sich die Spur. In jahrelanger Detektivarbeit stöbert das Forscherpaar Alison und Helmut Gernsheim das verschollene Kleinod schließlich auf: Auf einen Artikel im "Observer" meldet sich schließlich 1951 der selbst schon greise Sohn des letzten bekannten Besitzers Henry Baden Pritchard, dem früheren Herausgeber der Photographic News.
Das Bild ist auf dem Dachboden der Familie aufgetaucht, gerahmt und kaum noch zu erkennen hatte es zwischen persönlichen Dingen der 1917 verstorbenen Mutter von Pritchard Jr. gelegen. Der erste Meilenstein der Fotogeschichte ruiniert? Alle Mühe umsonst? Nein. Hilfe kommt vom Filmhersteller Kodak: In dessen Forschungsabteilung wird das Bild aufwändig rekonstruiert. Über 100 Jahre nach jenen acht Stunden am Fenster erhält das lang verkannte Genie Joseph Nicéphore Niepce endlich den verdienten Ruhm.