Fotografie Diese Bilder einer 14-Jährigen dokumentieren die Proteste in Georgien

Die Fotos der Schülerin Nestan von den proeuropäischen Demos in Georgien berühren, dabei ist Nestan erst 14 Jahre alt. Einblicke mit den Augen einer, um deren Zukunft es geht.
Georgien: Ein Mann spielt während der Proteste Musik mit seiner Box. Im Hintergrund der Protest und ein "Europa"-Banner
Bunte Proteste in Georgien im März 2024 mit vielen jungen Menschen
© Nestan / Coda

Seit Ende November halten pro-europäische Proteste Georgien dauerhaft in Atem. Am Wochenende sollen sie einen neuen Höhepunkt erreichen: Angesichts der für Samstag geplanten Ernennung des ultra-rechten Ex-Profifußballers Micheil Kawelaschwili durch die Regierungspartei Georgischer Traum zum Präsidenten wächst die Angst vor einer Eskalation. Die Polizei setzte bereits in den vergangenen Tagen Tränengas und Wasserwerfer gegen die Demonstranten ein, insgesamt wurden mehr als 400 Menschen festgenommen.

Kawelaschwili soll Nachfolger der pro-westlichen Präsidentin Salome Surabischwili werden, die sich ihrerseits weigert, zurückzutreten. Sie hatte das neue Parlament wegen Wahlbetrugsvorwürfen als verfassungswidrig eingestuft und das Wahlergebnis vor dem Verfassungsgericht angefochten. Surabischwili, die mittlerweile als Symbol für die Bestrebung Georgiens, der EU beizutreten, gilt, ist bei den Demonstranten extrem beliebt. 

Unter ihnen ist auch die erst 14-jährige Schülerin Nestan. Seit knapp einem Jahr begleitet sie die Proteste fotografisch. Der stern zeigt ihre beeindruckenden Bilder mit Nestans Kommentierungen. Hier schreibt sie darüber, wie sie die Bewegung erlebt und wieso ihre eigene Zukunft auf dem Spiel steht. 

Das, was jetzt passiert, ist ein guter Gesprächsstarter. Die Leute fragen immer: Was glaubst du, was passieren wird? Ich fotografiere seit fast einem Jahr, seit den Protesten gegen das Agentengesetz im Frühjahr. Bislang habe ich nicht viel Schule verpasst, abgesehen von den Zeiten, in denen wir nicht zur Schule gehen konnten, weil maskierte Polizisten die Straßen blockierten. Doch jetzt hat meine Schule angekündigt, dass sie aus Solidarität mit den Protesten schließen wird, also haben wir eine Woche lang keine Schule. 

Eine Frau kümmert sich um einen Mann, der nach einem Protest notärztlich behandelt wird
"Ich nenne das ein georgisches Familienporträt – sein Sohn und seine Frau, die den Ehemann anschauen. Es war schön zu sehen, wie die Frau ihren Mann tröstet. Sogar hier kann man sehen, dass der Ehemann seine Frau im Arm hält. Das Bild spricht für sich selbst"
© Nestan /.coda
Ein Mädchen tropft einem Jungen Augentropfen in die Augen nachdem von der Polizei Tränengas versprüht hat
"Es war noch so viel Gas von der Nacht zuvor übrig, weil die Polizei Gas mit Wasser mischt. Der Geruch war sehr intensiv. Es fiel auch mir schwer zu sehen und zu atmen. Dieser Junge stand da mit Tränen in den Augen, und das Mädchen kam ihm zu Hilfe"
© Nestan / Coda

Georgiens europäische Integration bis 2028 gestoppt

Als Premierminister Irakli Kobakhidze ankündigte, dass Georgien die europäische Integration bis 2028 nicht weiterverfolgen wird, rief dies junge Menschen auf den Plan, die nun in großer Zahl auf die Straße gehen. 

Ein Mann steht in der Menge und hat Angst vor dem Tränengas. Ein anderer Mann trägt eine Gasmaske und versucht ihn zu beruhigen
"An einem Tag wurde viel Tränengas eingesetzt. Die Leute hielten sich gegenseitig fest und sagten: 'Es ist alles in Ordnung' und dass wir zusammenbleiben und vorsichtig gehen müssten. Man kann die Tränen in den Augen dieses Mannes sehen, er hat Angst vor dem Tränengas, aber der andere Mann mit der sowjetischen Gasmaske beruhigt ihn und hilft ihm – seelisch und körperlich"
© Nestan /.coda
Protestanten helfen einen Verletzten zu transportieren
"Der junge Mann soll vom Parlament gefallen sein. Während der Proteste ließen die Leute immer eine Art Lücke in der Menge, damit die Leute durchlaufen konnten. Auch Demonstranten helfen beim Transportieren der Krankentrage"
© Nestan/.coda

Zunächst habe ich im Frühjahr eine Woche lang mit meinen Freunden protestiert, aber ich wollte mehr tun. Außerdem bin ich in einem Journalistenhaushalt aufgewachsen. Ich hatte das Gefühl, dass es nicht ausreicht, nur zu protestieren – nur dabei zu sein. Wenn man jung ist, sind Menschen in deinem Alter leichter zu fotografieren. Sie sehen dich anders an. Es ist angenehmer. Ich glaube, das kommt in meinen Bildern zum Ausdruck. Und ich habe das Gefühl, dass ich den Demonstranten mehr helfe, indem ich sie so fotografiere, wie sie sind, und der Welt zeige, was jenseits von Feuerwerk und Gas vor sich geht.

Eine Frau sitzt am Boden und lehnt sich an einen Mann , der neben ihr steht
"Ich habe viele solcher Paare gesehen, aber auch Fremde, die sich an den Händen halten, um durch die Menge zu kommen. Man kann in dem Gesicht der Frau sehen, dass sie sich Sorgen macht. Vielleicht darüber, Tränengas abzukommen – oder über die Zukunft des Landes und ihre eigene Zukunft"
© Nestan/.coda
Protestanten vor dem TV-Studio eines regierungsfreundlichen Senders
"Demonstranten vor dem Büro von Pirveli (dem regierungsfreundlichen Fernsehsender). Sie forderten, eine Debatte im Live-Fernsehen abhalten zu können, weil viele Menschen in kleinen Dörfern diesen Propaganda-Fernsehsender sehen und nicht wissen, was wirklich vor sich geht. Sie wissen nicht, wie die maskierten Polizisten die Menschen verprügeln, weil das nicht gezeigt wird. Daraufhin drängten die Demonstranten in das Foyer, verlangten eine Live-Übertragung – und bekamen sie auch"
© Nestan /.coda

Ich möchte professionelle Fotografin werden, aber ich weiß auch, dass ich jung bin und gerade erst anfange. Im Allgemeinen ist das in Ordnung, denn ich denke, dass viele meiner Bilder so besser waren, weil ich hinter die Kulissen blicken kann und die Leute weniger Angst vor mir haben, weil ich nicht dieses große, ernste Mediengesicht aufsetze.

Oppositionspolitikerin Elene Khoshtaria
"Die Leute fingen an, einen Kameramann und einen Journalisten des (staatlich unterstützten) Fernsehsenders Imedi TV zu jagen und verfolgten sie über den ganzen Protest, bewarfen sie mit Eiern und Wasser und schrien sie an. Sie griffen sie zwar nicht an, waren aber aggressiv und ließen sie nicht filmen. Eine Oppositionspolitikerin, Elene Khoshtaria (o.), kam und beschützte sie und sagte den Demonstranten, sie sollten die Medien nicht anfassen, sie seien hier, um zu berichten und würden nur ihre Arbeit machen. Später wurde sie von einem Wasserwerfer getroffen, fiel hin und brach sich die Hand"
 
© Nestan /.coda
Fünf Polizeibeamte und in der Mitte eine Polizeibeamtin
"Ich mag dieses Foto, weil es eine Polizistin in einem Meer von Männern zeigt. Bevor ich das Bild gemacht habe, hat sich eine Frau mit den Polizisten gestritten, und sie hatten alle unterschiedliche Gesichtsausdrücke. Der eine schaut interessiert, der andere fragt sich: 'Wovon redet sie?' Sie alle denken nach. Aber was denken sie? Auf wessen Seite stehen sie? Vielleicht wollen sie sich den Demonstranten anschließen, können es aber nicht"
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Jugendlicher mit Georgien-Flagge um die Schultern gebunden
"Ein Teenager in der Nähe des Vorortes Saburtalo. Das war zu Beginn der Proteste. Die Atmosphäre war anders – offen, weitläufig. Einige Leute waren auf Fahrrädern unterwegs, was sich sehr europäisch anfühlte und was man in Georgien nicht oft sieht. Aus einem Lastwagen, der mitfuhr, ertönte Musik, und sie gaben den Leuten das Mikrofon, um zu sprechen. Ehrlich gesagt war es einer der am besten organisierten Proteste bisher"
© Nestan/.coda

Große Hilfsbereitschaft unter den Demonstranten

Ich liebe es, die Proteste zu fotografieren. Es ist so anstrengend, aber auch so erfüllend, die Menschen zu beobachten und zu sehen, wie sie sich vereinen. Ich war bei einer Demonstration und wurde mit Tränengas beschossen, und einige in Fahnen gehüllte Leute kamen sofort und halfen uns. Sie telefonierten und hatten Milch und Kochsalzlösung für uns dabei. Sie kamen einfach vorbei und fragten, ob man Kochsalzlösung brauche, gaben sie einem in die Augen und gingen dann zur nächsten Person weiter. 

Ich weiß noch, dass ich sagte: "Ich brauche Wasser", und ehe ich mich versah, standen fünf Leute mit Wasserflaschen für mich bereit. Das hat mir wirklich gezeigt, wie viele Helden es gibt. Die Menschen haben keine Angst. Selbst als vor ein paar Tagen die Leute mit Tränengas beschossen wurden, rannten sie weg, und eine neue Welle kam, um sie in der Menge zu ersetzen. Es ist fast so, als ob sie im Schichtdienst arbeiten würden. Es ist wirklich cool zu sehen, wie die Menschen sich gegenseitig helfen, wo es nur geht. 

Kameras filmen einen Studentenprotest
"Dieser Protest wurde von einer jungen Studentenbewegung namens Dafioni organisiert. Letztes Jahr führten sie mehrere Studentenmärsche an. Dies war einer von ihnen, als die Studenten ihre Universität stürmten. Auf der Tafel steht die klare Botschaft: 'Nein zum russischen Gesetz'"
© Nestan / Coda
Eine Frau bei einem Studentenprotest
"Eines meiner Lieblingsbilder. Eher wie ein Gemälde als ein Foto. Eine wunderschöne Frau in der Nacht eines Studentenprotestes. Das Bild fängt die Stimmung perfekt ein – die Menschen sind eindeutig müde, aber dennoch entschlossen, weiterzumachen"
© Nestan / Coda

Neulich nahm ich ein Taxi und der Taxifahrer fragte mich: "Gehen Sie zu den Protesten?", und ich sagte: "Ja", und ich dachte: "Was wird er wohl sagen?" 

Und er fragte: "Wie viel schulde ich Ihnen, um es Ihnen zurückzuzahlen?"

Ich fragte ihn, was er meinte, und er sagte: "Sie werden eine so gute Tat vollbringen, wie könnte ich da jemals Geld dafür annehmen?"

Und ich sagte: "Nein, bitte nicht", und er fing an zu weinen. Er sagte, wie grausam es sei, was diese Polizisten den Menschen antäten, und wie sehr es ihn berühre und dass die Zukunft des Landes im Moment am seidenen Faden hänge. Es war einfach so bewegend, diesen erwachsenen Mann über sein Land weinen zu sehen. 

Frau in eine Decke eingewickelt. Hinter ihr vermummte Polizei
"Ich weiß nicht, ob sie sich vor der Kamera versteckt hat oder ob es ein Scherz war. Viele junge Leute gingen zu den Protesten – einige waren Kinder, die sich von zu Hause wegschlichen, um dabei zu sein. Dies war einer der Tage, an denen sie vor dem Parlament zelteten. Sie stand einfach in dieser Menge von Polizisten und alle Polizisten sahen sie an. Die meiste Zeit über sahen ihre Gesichter gleichgültig aus, als wären sie aus Glas"
 
© Nestan / Coda
Zwei Personen sitzen auf der Bordsteinkante. Die Polizei steht daneben
"Dies war einer der Tage, an denen die Proteste nicht aufhörten. Die Polizei verprügelte die Leute und versuchte, sie festzunehmen. Normalerweise verprügeln sie die Leute nachts, aber hier war es am Tag – um die Mittagszeit. Die Leute, die zwei Tage lang ununterbrochen dort gewesen waren, gingen, und andere kamen. Als ob sie im Schichtdienst arbeiten würden. Das Paar auf dem Foto machte ein Nickerchen. Später tauschten sie mit den Polizisten neben ihnen Kaffee und Kekse aus"
© Nestan / Coda

Die jungen Leute sind sehr wütend und denken an nichts anderes mehr als an die Proteste. Es gibt keine anderen Prioritäten. Die Priorität ist, unser Land zu retten. Die Demonstranten sagen: Wir schützen euch und die Zukunft eurer Kinder, damit ihr nicht morgen in Russland aufwacht.