Seit Ende November halten pro-europäische Proteste Georgien dauerhaft in Atem. Am Wochenende sollen sie einen neuen Höhepunkt erreichen: Angesichts der für Samstag geplanten Ernennung des ultra-rechten Ex-Profifußballers Micheil Kawelaschwili durch die Regierungspartei Georgischer Traum zum Präsidenten wächst die Angst vor einer Eskalation. Die Polizei setzte bereits in den vergangenen Tagen Tränengas und Wasserwerfer gegen die Demonstranten ein, insgesamt wurden mehr als 400 Menschen festgenommen.
Kawelaschwili soll Nachfolger der pro-westlichen Präsidentin Salome Surabischwili werden, die sich ihrerseits weigert, zurückzutreten. Sie hatte das neue Parlament wegen Wahlbetrugsvorwürfen als verfassungswidrig eingestuft und das Wahlergebnis vor dem Verfassungsgericht angefochten. Surabischwili, die mittlerweile als Symbol für die Bestrebung Georgiens, der EU beizutreten, gilt, ist bei den Demonstranten extrem beliebt.
Unter ihnen ist auch die erst 14-jährige Schülerin Nestan. Seit knapp einem Jahr begleitet sie die Proteste fotografisch. Der stern zeigt ihre beeindruckenden Bilder mit Nestans Kommentierungen. Hier schreibt sie darüber, wie sie die Bewegung erlebt und wieso ihre eigene Zukunft auf dem Spiel steht.
Das, was jetzt passiert, ist ein guter Gesprächsstarter. Die Leute fragen immer: Was glaubst du, was passieren wird? Ich fotografiere seit fast einem Jahr, seit den Protesten gegen das Agentengesetz im Frühjahr. Bislang habe ich nicht viel Schule verpasst, abgesehen von den Zeiten, in denen wir nicht zur Schule gehen konnten, weil maskierte Polizisten die Straßen blockierten. Doch jetzt hat meine Schule angekündigt, dass sie aus Solidarität mit den Protesten schließen wird, also haben wir eine Woche lang keine Schule.
Georgiens europäische Integration bis 2028 gestoppt
Als Premierminister Irakli Kobakhidze ankündigte, dass Georgien die europäische Integration bis 2028 nicht weiterverfolgen wird, rief dies junge Menschen auf den Plan, die nun in großer Zahl auf die Straße gehen.
Zunächst habe ich im Frühjahr eine Woche lang mit meinen Freunden protestiert, aber ich wollte mehr tun. Außerdem bin ich in einem Journalistenhaushalt aufgewachsen. Ich hatte das Gefühl, dass es nicht ausreicht, nur zu protestieren – nur dabei zu sein. Wenn man jung ist, sind Menschen in deinem Alter leichter zu fotografieren. Sie sehen dich anders an. Es ist angenehmer. Ich glaube, das kommt in meinen Bildern zum Ausdruck. Und ich habe das Gefühl, dass ich den Demonstranten mehr helfe, indem ich sie so fotografiere, wie sie sind, und der Welt zeige, was jenseits von Feuerwerk und Gas vor sich geht.
Ich möchte professionelle Fotografin werden, aber ich weiß auch, dass ich jung bin und gerade erst anfange. Im Allgemeinen ist das in Ordnung, denn ich denke, dass viele meiner Bilder so besser waren, weil ich hinter die Kulissen blicken kann und die Leute weniger Angst vor mir haben, weil ich nicht dieses große, ernste Mediengesicht aufsetze.
Große Hilfsbereitschaft unter den Demonstranten
Ich liebe es, die Proteste zu fotografieren. Es ist so anstrengend, aber auch so erfüllend, die Menschen zu beobachten und zu sehen, wie sie sich vereinen. Ich war bei einer Demonstration und wurde mit Tränengas beschossen, und einige in Fahnen gehüllte Leute kamen sofort und halfen uns. Sie telefonierten und hatten Milch und Kochsalzlösung für uns dabei. Sie kamen einfach vorbei und fragten, ob man Kochsalzlösung brauche, gaben sie einem in die Augen und gingen dann zur nächsten Person weiter.
Ich weiß noch, dass ich sagte: "Ich brauche Wasser", und ehe ich mich versah, standen fünf Leute mit Wasserflaschen für mich bereit. Das hat mir wirklich gezeigt, wie viele Helden es gibt. Die Menschen haben keine Angst. Selbst als vor ein paar Tagen die Leute mit Tränengas beschossen wurden, rannten sie weg, und eine neue Welle kam, um sie in der Menge zu ersetzen. Es ist fast so, als ob sie im Schichtdienst arbeiten würden. Es ist wirklich cool zu sehen, wie die Menschen sich gegenseitig helfen, wo es nur geht.
Neulich nahm ich ein Taxi und der Taxifahrer fragte mich: "Gehen Sie zu den Protesten?", und ich sagte: "Ja", und ich dachte: "Was wird er wohl sagen?"
Und er fragte: "Wie viel schulde ich Ihnen, um es Ihnen zurückzuzahlen?"
Ich fragte ihn, was er meinte, und er sagte: "Sie werden eine so gute Tat vollbringen, wie könnte ich da jemals Geld dafür annehmen?"
Und ich sagte: "Nein, bitte nicht", und er fing an zu weinen. Er sagte, wie grausam es sei, was diese Polizisten den Menschen antäten, und wie sehr es ihn berühre und dass die Zukunft des Landes im Moment am seidenen Faden hänge. Es war einfach so bewegend, diesen erwachsenen Mann über sein Land weinen zu sehen.
Die jungen Leute sind sehr wütend und denken an nichts anderes mehr als an die Proteste. Es gibt keine anderen Prioritäten. Die Priorität ist, unser Land zu retten. Die Demonstranten sagen: Wir schützen euch und die Zukunft eurer Kinder, damit ihr nicht morgen in Russland aufwacht.