Vor Ort Dieses Wahlergebnis ist ein Sieg für Moskau – hat Europa nun Georgien verloren?

  • von Luise Glum
Georgien: Ein Demonstrant reckt die georgische Flagge in die Höhe
Wut in Georgien: ein junger Demonstrant protestiert mit Tausenden in Tiflis gegen das Ergebnis der Parlamentswahl
© MAXPPP / Imago Images
Nach Angaben der Wahlkommission in Georgien hat der prorussische Georgische Traum die Wahl gewonnen. Dagegen demonstrieren Tausende – und haben Argumente auf ihrer Seite.

Es ist der Tag zwei nach der Wahl, und der Platz vor dem georgischen Parlament in Tiflis ist an diesem Abend voll mit Menschen. Sie stehen dicht an dicht. Georgische Flaggen sind zu sehen, aber vor allem Europaflaggen. Dazu läuft die europäische Hymne, Beethovens Schlusschoral seiner neunten Symphonie – "Freude schöner Götterfunken". 

Genau deswegen sind sie hierhergekommen, wegen Europa. Oder genauer: wegen ihrer Furcht, dass Georgien nun der Weg in die Europäische Union versperrt sein könnte. Am Samstag hat die Regierungspartei Georgischer Traum nach Angaben der Wahlkommission die Parlamentswahlen gewonnen. Damit könnte sich das Land noch stärker Russland zuwenden und die europäische Integration in weite Ferne rücken. Doch laut Umfragen will eine große Mehrheit der Georgier in die EU. Die Menschen auf dem Platz vor dem Parlament fordern eine Annullierung der Wahl – und sie haben einige Argumente auf ihrer Seite.

54 Prozent der Wähler haben laut der Wahlkommission in Tiflis für den Georgischen Traum gestimmt. Besonders über den Sieg freuen dürfte sich Bidzina Ivanishvili, Parteigründer und Ehrenvorsitzender. Ivanishivili gilt als einer der reichsten und mächtigsten Männer im Land und als Architekt des Pro-Russland-Kurses seiner Partei.

Georgien: Tausende kamen am Montagabend in Tiflis zusammen, um gegen das Ergebnis der Parlamentswahl zu demonstrieren
Tausende kamen am Montagabend in Tiflis zusammen, um gegen das Ergebnis der Parlamentswahl zu demonstrieren
© Alexander Patrin / Imago Images

Doch schon am Wahlabend kündigten die zwei größten oppositionellen Bündnisse an, das Ergebnis nicht anzuerkennen. Die zentrale Wahlkommission habe "Ivanishvilis schmutzigen Befehl" ausgeführt und dem georgischen Volk "die europäische Zukunft gestohlen", sagte Tina Bokuchava. Sie ist Vorsitzende der Partei "Unity – National Movement". Laut dem Ergebnis der zentralen Wahlkommission konnte die pro-europäische Opposition 38 Prozent der Stimmen für sich gewinnen.

"Massive Verstöße gegen das Wahlrecht"

Auch Wahlbeobachter fordern, die Wahl zu annullieren. "Es gab zahlreiche massive Verstöße gegen das Wahlrecht", sagt Sandro Baramidze. Er arbeitet für den georgischen Ableger von Transparency International. Vor der Wahl hatte sich die Organisation mit anderen NGOs zusammengeschlossen, um mit einer lokalen Beobachtermission den Ablauf der Abstimmung zu kontrollieren. Rund 1500 Beobachter habe man am Wahltag eingesetzt, sagt Baramidze, fast 2000 Wahllokale überwachen können.

Den Wahltag hat Baramidze in der Zentrale verbracht, wo die Berichte der Wahlbeobachter eingingen. Und zu berichten gab es laut Baramidze genug: Manche Wähler hätten die Ausweise anderer Personen verwendet, andere sollen in die Wahlkabine begleitet worden sein. Auf manchen Wahlzetteln soll die Nummer 41, die der Regierungspartei "Georgischer Traum", bereits angekreuzt gewesen sein. 

Mehr als 300 Fotos und Videos hätten sie bereits gesammelt, sagt Baramidze. Mit diesen Daten wollen die Wahlbeobachter Beschwerde bei der Wahlverwaltung einreichen. "Wenn diese ablehnt, gehen wir vor Gericht." Wirklich optimistisch, dass das etwas bewirkt, ist Baramidze aber nicht. "Auch das Gericht wird unser Anliegen wahrscheinlich zurückweisen, weil diese Regierung alle Institutionen kontrolliert." Worauf Baramidze hofft: eine Reaktion der internationalen Gemeinschaft, wenn sie genug Daten vorlegen können.

Die internationale Beobachtermission der OSZE veröffentlichte bereits ein Statement, das Baramidzes Anschuldigungen stützt. Von einem "weitverbreiteten Klima des Drucks" ist die Rede, von "parteilich organisierter Einschüchterung vor und während der Wahlen" sowie "Fällen von Stimmenkauf". Und auch viele EU-Staaten äußern Kritik. Der Tenor ist immer ähnlich: Man stehe an der Seite der georgischen Bürger und fordere, dass mögliche Wahlmanipulationen untersucht werden. Und man unterstütze Georgien weiter auf seinem Weg Richtung EU.

Die EU hat viel in Georgien und dessen Annäherung an Europa investiert. In den letzten fünf Jahren flossen mehr als 500 Millionen Euro von Brüssel nach Tiflis. Außerdem ist die EU für Georgien der wichtigste Handelspartner. Im März 2022 bewarb sich Georgien als Kandidat für einen EU-Beitritt, im Dezember letzten Jahres stimmte die EU zu. 

Nachdem die georgische Regierung das umstrittene Gesetz zur "ausländischen Einflussnahme" verabschiedet hatte, legte die EU den Prozess jedoch wieder auf Eis. Ähnlich einer Regelung in Russland verpflichtet das Gesetz NGOs, sich als "Agenten ausländischer Einflussnahme" zu registrieren, wenn sie mehr als ein Fünftel ihrer Finanzierung aus dem Ausland erhalten.

Vor ein paar Wochen brachte der Georgische Traum eine weitere Regelung durch, die den Werten der EU widerspricht. Das umstrittene Gesetz zum Schutz von Familienwerten und Minderjährigen schränkt die Rechte von LGBTQ+-Personen drastisch ein, verbietet unter anderem angebliche LGBT-Propaganda, gleichgeschlechtliche Ehen und medizinische Eingriffe zur Geschlechtsangleichung.

Verlässliche Partner hat die EU in der Kaukasusregion nicht. Der Sieg des Georgischen Traums ist deshalb auch für Brüssel eine Niederlage. "Wir bekräftigen die Aufforderung der EU an die georgische Führung, ihr festes Engagement für den EU-Weg des Landes unter Beweis zu stellen", sagte Charles Michel, Präsident des Europäischen Rats, am Tag nach der Wahl.   

Russland schickt Glückwünsche nach Georgien

Einige positive Reaktionen auf den Wahlsieg des "Georgischen Traum" gab es auch – von ganz anderer Seite. Ilham Aliyev, der autoritär regierende Staatschef Aserbaidschans, gratulierte herzlich. Aus Russland äußerte sich Aleksey Pushkov, Senator im russischen Föderationsrat. "Auch wenn es noch Unruhen in Georgien geben mag", schrieb Pushkov auf Telegram, "scheint es, dass der vom Westen angestrebte 'Regimewechsel' in Georgien durch die Unterstützung der Opposition schlicht und ergreifend gescheitert ist."

Aber auch ein EU-Regierungschef gratulierte Premierminister Irakli Kobakhidze und dem "Georgischen Traum" zu einem "überwältigenden Sieg" und brach kurz nach der Wahl sogar zu einem spontanen Besuch nach Georgien auf. Am Montag kam Ungarns Ministerpräsident Victor Orbán in Tiflis an, just während vor dem Parlament die EU-Anhänger demonstrierten. Georgische Medien übertrugen, wie Orbán sein Hotel verließ, unweit der Demo in der Rustaveli Avenue. Demonstranten buhten ihn dabei aus. In Tiflis will Orbán Irakli Kobakhidze treffen – ein Besuch, der in der EU nicht gut ankommen dürfte.

Wahlbeobachter Sandro Baramidze ist skeptisch, dass Proteste in seinem Land überhaupt noch etwas bewegen können. Bereits im Frühjahr haben tausende Georgier gegen die Regierung demonstriert. Am Ende brachte der "Georgische Traum" trotzdem das Gesetz gegen "ausländische Einflussnahme" durch. "Es gab einen großen Aufschrei in der demokratischen Welt, im Westen und auch in Deutschland. Aber das hat sie nicht gekümmert."