Seit zehn Jahren betreibt André Pintz seine Bar Imperii in Leipzig. Der preisgekrönte Barkeeper hat die deutsche Cocktailkultur mitgeprägt. Im Interview spricht er über die Kunst des perfekten Drinks, warum die Gin Tonic-Ära endlich vorbei sein und weshalb eine Bar vor allem eines sein sollte: ein Rückzugsort.
Herr Pintz, viele denken bei Cocktails nur an Aperol Spritz, Tiki-Becher und Gin Tonic. Woran liegt das? Und was läuft da falsch?
Ich würde nicht unbedingt sagen, dass da etwas falsch läuft. Diese Drinks haben definitiv ihre Daseinsberechtigung. Aperol Spritz funktioniert im Sommer einfach wahnsinnig gut. Allerdings sollten Gäste in klassischen Cocktailbars merken, dass das Angebot weit über diese Standards hinausgeht.
Der Gin Tonic war lange der absolute Trend-Drink. Ist er das immer noch?
Er ist tatsächlich etwas rückläufig. Die Corona-Jahre haben dazu geführt, dass viele sich zu Hause eine kleine Hausbar eingerichtet haben – oft spezialisiert auf Gin, weil das für die Heimbar zur gefälligsten Spirituose geworden ist. Wir merken deshalb zunehmend: Wenn die Gäste zu uns kommen, sind sie bereit, ihren Horizont zu erweitern und andere Sachen auszuprobieren.
Sie kreieren Drinks mit Pisco, Mezcal, Jägermeister – nichts davon schreit nach Mainstream. Was macht für Sie einen Drink heute wirklich interessant?
Die Komplexität. Wenn Zutaten ineinander verschmelzen, die auf den ersten Blick gar nicht zusammenpassen, aber in ihrer DNA einen gemeinsamen Nenner haben und ein einzigartiges Geschmackserlebnis erzeugen. Es geht darum, Spirituosen nicht als Einzelnes zu sehen, sondern als Gesamtheit im Glas. Das ist wie in der Küche: Jede Zutat gibt etwas von ihrer Individualität auf, schafft aber im Verbund etwas Größeres.
Wie erklären Sie in einem Satz, worum es bei Cocktails wirklich geht?
Alkohol ist ein Genussmittel, das man elegant in Szene setzen und genießen kann. Dafür ist er geschaffen.
Sie haben gerade Ihre neue Sommerkarte veröffentlicht. Darauf findet sich ein Mandarin Negroni – eine kleine Verneigung nach Hamburg, wo der Drink in der Bar Le Lion erfunden wurde. Wann entscheiden Sie sich dafür, einen Drink so zu lassen wie er ist – und wann versehen Sie ihn mit einem eigenen Twist?
Bei alten Klassikern versuchen wir, sie in unserem Stil abzuwandeln. Bei unseren zehn internationalen Gastdrinks von Bartendern aus aller Welt lasse ich sie zu 100 Prozent so, wie sie sind – als Hommage an die Kollegen. Es ist wie ein Dialog zwischen Bars: Wenn Gäste bei uns einen Mandarin Negroni von Jörg Meyer und Dennis Stein probieren und dann vielleicht in Hamburg sagen können: "Ich war gerade im Imperii und habe dort einen Drink von euch probiert."
Gab es schon einmal einen Moment, in dem Sie dachten: Das war‘s, hier bin ich gescheitert?
Ja, bei unserer aktuellen Karte. Wir wollten eine abgefahrene Kombination kreieren, haben bestimmt sechs Varianten ausgemischt, doch es wollte einfach nicht funktionieren. Ich gebe mir für einen Drink maximal drei Versuche. Wenn ich keine Tendenz erkennen kann, verwerfe ich die Idee und gehe zur nächsten.
Woran merken Sie, dass etwas nicht nur im Kopf spannend bleibt, sondern auch im Glas funktioniert?
Wenn ich das erste Konzept für eine Barkarte präsentiere und viele Räder ineinandergreifen – wenn wir nach neuen Zutaten schauen, mit Gastbartendern sprechen, in der Stadt nach Dekoelementen suchen –, dann ist bei allen das Feuer geweckt.
Nach so viel Jahren auf hohem Niveau: Wie viel Bauchgefühl steckt in Ihren Drinks und wie viel Technik?
Bei mir ist es eher der Kopf, nicht der Bauch. Manchmal gehe ich in die Küche und mixe etwas, weil ich gerade einen Einfall hatte. Meistens funktioniert es. Ein entscheidendes Element ist die Nase – ich rieche an jeder Zutat und kann daraus schnell Assoziationen und Kombinationen ableiten.
Sie sagten einmal, ein Drink braucht eine Geschichte. Wo beginnt bei Ihnen die Geschichte – beim Produkt, beim Moment oder bei Ihnen selbst?
Vor allem bei mir selbst. Zu jedem Drink habe ich eine Assoziation, eine Liebe für eine bestimmte Zutat oder Präsentation. Zum Beispiel haben wir einen Drink namens "Cana Iconic" – das ikonische Zuckerrohr – mit Flor de Caña gemixt und komplett grün eingefärbt, serviert in einer alten Kristallzuckerdose. Da spielt sich die Geschichte in meinem Kopf ab.
Wie gehen Sie mit Trends um – sind sie eher Fluch oder Segen?
Wir probieren die meisten aus, merken aber relativ schnell, dass der Stil, den wir seit zehn Jahren fahren, genau der ist, den unsere Gäste schätzen. Drinks mit weniger Alkohol, dezente Dekoration – wir haben alles getestet, aber die Gäste sagten immer: "Macht wieder eure gewohnten, starken, kräftigen Drinks mit den verrückten Präsentationen."
Gibt es eine Grenze, ab der ein Drink für Sie überinszeniert ist?
Wenn die Spirituose, die den Drink ausmacht, nicht mehr hundertprozentig klar zu erkennen ist.
Was ist für Sie der Unterschied zwischen einem schönen Drink und einem, der im Kopf bleibt?
Ein schöner Drink ist komplex und vollmundig, er schmeckt einfach gut. Ein Drink, der im Kopf bleibt, hat eine einzigartige Komplexität und das Setting rundherum stimmt: die Empfehlung des Bar-Teams, die Lichtstimmung, die Gesellschaft– wenn wirklich alle olfaktorischen Eigenschaften passen, dann ist es ein Drink, der im Kopf bleibt.
Wo stehen wir in Deutschland beim Thema Cocktails? Sind die Leute wirklich interessiert oder immer noch ein bisschen misstrauisch?
Leider Letzteres. Viele deutsche Gäste haben noch nicht verstanden, dass Gastronomie oder zumindest das Barbusiness ein absolutes Handwerk ist. Dieses Handwerk kostet eben auch etwas. Zu guten Drinks gehören die richtigen Spirituosen, hochwertige Gläser, perfektes Eis – alles Faktoren, die den Preis nach oben treiben. In Frankreich oder den USA ist man bereit, für Qualität zu zahlen. Hier schauen die meisten zuerst auf den Preis und dann erst auf alles andere.
Dennoch posten viele Ihre Drinks auf Instagram. Ist es denn überhaupt wichtig, dass alle verstehen, wie viel Handwerk in einem guten Drink steckt?
Wenn Gäste Fotos auf Instagram posten, wollen sie das Momentum, das sie mit diesem Drink haben, festhalten und in die Welt streuen. Das ist Anerkennung genug, denn dann war es für sie ein außergewöhnliches Erlebnis. Das finde ich sehr schön.
Warum fasziniert uns das Ritual an der Bar mehr denn je – gerade in einer Welt, in der alles schneller, effizienter und standardisierter wird?
Weil eine Bar ein Ort ist, an dem man abschalten kann und sollte. Eine Bar ist für mich ein Rückzugsort, wo man die Welt draußen komplett vergessen kann. Deswegen freut es mich, wenn Gäste sich an den Tresen setzen und den Entstehungsprozess eines Drinks akribisch beobachten. Das entschleunigt. Und in einer Zeit permanenter Erreichbarkeit ist dieser Moment des Innehaltens ein Luxus.
Gibt es für Sie einen Drink, der mehr über Zeitgeist erzählt als jeder Leitartikel?
Ich glaube, das ist der Cosmopolitan. Er wurde in den vergangenen Jahrzehnten von den ersten Entwürfen mit Himbeer-Aroma bis hin zu Grenadine so stark abgewandelt, dass er viel über das Trinkverhalten verschiedener Generationen erzählt. Was mich immer wieder verblüfft: Wenn das Sommerkino ist und "Sex and the City" läuft, kommen alle zu uns und wollen auf einmal wieder einen Cosmopolitan. Das habe ich bei keinem anderen Drink beobachtet. In den letzten Jahren wurde er oft perfektioniert und verändert – mit oder ohne Zeste, mit dehydriertem Obst oder Parfüm darüber. Er erzählt viel über den Zeitgeist und wie sich die Bar-Kultur verändert hat.
Gibt es einen Drink, der Sie schon lange begleitet und der für Sie persönlich steht?
Meine Leidenschaft für den klassischen Bijou-Cocktail ist 2014 in Paris entstanden, wo ich ihn zum ersten Mal in der Candelaria probierte. Später war ich mit Jared Brown und Anastasia Miller in New Orleans, wo wir ebenfalls Bijou getrunken haben. Da lernte ich die Vielfalt dieses Drinks kennen und ihn lieben. Er ist einer der wenigen, die ich als Erstes bestelle, wenn ich in einer neuen Bar bin. Er ist komplex und eigentlich einfach zu mixen, wenn man die richtigen Zutaten hat – aber die Balance muss stimmen. Damit teste ich gerne eine neue Bar.
Rezept für Bijou-Cocktail

Zutaten:
- 60 ml Dry Gin (Tanqueray oder Humboldt Gin)
- 20 ml süßer roter Wermut (Carpano Antica Formula)
- 10 ml grüner Chartreuse
- 1 Dash Orange Bitters
- Garnitur: Zitronen- oder Orangenzeste
Zubereitung:
- Alle Zutaten in ein mit Eis gefülltes Rührglas geben
- Etwa 30 Sekunden sanft und kontinuierlich rühren
- In eine vorgekühlte Cocktailschale abseihen
- Mit einer Zitrus-Zeste abspritzen und garnieren
Beim Bijou kommt es auf die Balance an. Das ursprüngliche Rezept verwendete gleiche Teile aller drei Spirituosen, was zu einem intensiven Kräuterbombast führte. In der modernen Version dominiert der Gin, was dem Drink mehr Klarheit und Frische verleiht.
Der Trick liegt im Rühren statt Schütteln – wir wollen eine kristallklare Flüssigkeit, in der die Aromen sauber abgegrenzt sind. Das Eis kühlt nicht nur, sondern verdünnt leicht, was die Spirituosen öffnet und verbindet.
André Pintz interpretiert den Bijou-Cocktail wie folgt:
- 20 ml Los Danzantes Mezcal Joven
- 20 ml Tanqueray No. Ten
- 20 ml D.O.M. Benedictine
- 20 ml Antica Formula
Durch den Mezcal bekommt der Drink eine interessante Würze. Aber vergessen Sie nicht: Der Bijou ist kein Durstlöscher, sondern ein Erlebnis. Wie bei einem guten Essen nimmt man sich Zeit, schmeckt, riecht und genießt jeden Aspekt. Zwei dieser flüssigen Juwelen und die Welt erscheint – zumindest für einen Moment – ein wenig glänzender als vorher.
Über den Bijou Cocktail:
Der Bijou Cocktail, im späten 19. Jahrhundert erdacht, vereint Gin, süßen Wermut und grünen Chartreuse zu einem Getränk, das seinem Namen alle Ehre macht: Bijou, französisch für "Juwel", spielt auf die Farben der Spirituosen an – Gin als Diamant, Wermut als Rubin und der grüne Kräuterlikör als Smaragd.
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