Diesen Triumph lässt sich Josef Stalin nicht nehmen. Am 15. Mai 1935 eröffnet der Sowjetdiktator feierlich die Moskauer Metro - und die Welt gerät ins Staunen über deren palastgleiche Pracht. Bertolt Brecht wird über die Untergrundbahn dichten: "Wir hörten: 80.000 Arbeiter / Haben die Metro gebaut, viele noch nach der täglichen Arbeit / Oft die Nächte durch. Während dieses Jahres / hatte man immer junge Männer und Mädchen / Lachend aus den Stollen klettern sehen, ihre Arbeitsanzüge / Die lehmigen, schweißdurchnässten, stolz vorweisend. / Alle Schwierigkeiten - / Unterirdische Flüsse, Druck der Hochhäuser / Nachgebende Erdmassen - wurden besiegt. Bei der Ausschmückung / Wurde keine Mühe gespart. Der beste Marmor / Wurde weit hergeschafft, die schönsten Hölzer / Sorgfältig bearbeitet. Beinahe lautlos / Liefen schließlich die schönen Wagen / Durch taghelle Stollen: für strenge Besteller / Das Allerbeste. / Als nun die Bahn gebaut war nach den vollkommensten Mustern / Und die Besitzer kamen, sie zu besichtigen und / Auf ihr zu fahren, da waren es diejenigen / Die sie gebaut hatten."
An die Eröffnung erinnert eine historische Marmortafel in der U-Bahn-Station Sokolniki. Bei einer Führung fragt der Ingenieur Daniil Schopchojew, ob an der Tafel etwas auffällt. Ja, klar. Der in Metallbuchstaben gesetzte Name W. I. Lenin ist deutlich nachträglich angebracht. Anstelle eines anderen Namens, dem von Lasar Kaganowitsch. Der enge Vertraute Stalins war Erbauer und erster Namensgeber der 1935 eröffneten Untergrundbahn.
Nun feiert Europas größte Stadt mit ihren offiziell rund 13,5 Millionen Einwohnern das 90-jährige Bestehen ihrer Metro, die Bürgermeister Sergej Sobjanin weiter ausbauen will. 302 Haltestellen hat sie aktuell, 120 davon kamen allein seit 2010 hinzu. An der Sokolniki-Station erinnert zum Geburtstag ein historischer Zug an die Jungfernfahrt der ersten Linie mit ihren damals 13 Stationen. Ein Bild auf dem Boden zeigt Arbeiter, die mit Bohrern einen Tunnel graben. "Die Geschichte beginnt hier", steht in einem Schriftzug zu lesen.
Nichts erinnert mehr an den Bauherrn und einstigen Verkehrsminister Kaganowitsch, der wie viele Parteikader nach dem Tod Stalins wegen des kommunistischen Terrors und einer Beteiligung an den politischen Säuberungen in Ungnade fiel. Seit 1955 trägt die Metro den Namen Wladimir Iljitsch Lenins, der die Vision von der U-Bahn als dem Verkehrsmittel der Zukunft einst gutgeheißen haben soll.
Züge fast im Minutentakt
Auf der berühmten braunen Ringlinie 5 kreist zum Jubiläum eine Zugparade mit historischen Waggons. An der Station Poleschajewskaja ist bei einer Technikschau auch der sogenannte Diagnostikzug "Sinergija-2" zu sehen. Eingesetzt wird er, um den Zustand der Tunnelsysteme und Gleise zu überprüfen. Heute gehört die Metro mit ihren mehr als 60.000 Beschäftigten zu den ausgefeiltesten Verkehrssystemen der Welt mit einer einzigartigen Taktung, bei der zu Spitzenzeiten etwa jede Minute ein Zug kommt. Rund neun Millionen Passagiere zählt das Unternehmen täglich.
Die Menschen hasten durch die ober- und unterirdischen Paläste mit ihren riesigen Mosaiken und Kunstwerken des sozialistischen Realismus. Metroführer Schopchojew hält an besonders markanten Punkten inne. An der Station Komsomolskaja kreuzen sich die rote Linie, die die erste war, und die braune Ringlinie. Drei Fernbahnhöfe, von denen Züge in verschiedene Richtungen des Landes starten, liegen in unmittelbarer Nähe.
Schopchojew zeigt die Säulenhallen der Haltstelle Komsomolskaja auf der roten Linie, die prächtigen Galerien über den Gleisen und dann ein riesiges Wandbild aus Kacheln. Es zeigt Bauarbeiter in sauberen Kleidern, mit festem Schuhwerk und glücklichen Gesichtern. Propaganda, denn von Augenzeugen des Baus ist überliefert, dass die Bedingungen unter Tage erbärmlich waren, nicht zuletzt wegen der Einsturzgefahr durch einbrechendes Grundwasser und zahlreiche andere geologische Probleme. Viele Arbeiter starben. In der Station der braunen Ringlinie feiern riesige Mosaike die Epochen der russischen Geschichte. Auch wegen der strahlenden Kronleuchter kann es die Halle leicht mit dem Glanz der Kremlpaläste aufnehmen.
Eine U-Bahn als sozialistische Machtdemonstration
Im Gegensatz zu New York, Budapest, Berlin oder Paris, die längst eine Metro hatten, war Moskau spät dran. "Stalin wollte, dass die U-Bahn, wenn sie schon nicht die erste ist, mit ihrer Ästhetik entzückt. Diese Paläste für das Volk sollten nicht nur die Überlegenheit des Sozialismus zeigen, sondern die Menschen überzeugen, dass sie die schönste U-Bahn der Welt haben", sagt Schopchojew.
Moskaus Metro ist zugleich als gigantische Bunkeranlage vorgesehen - und soll sogar für den Fall eines Atombombenangriffs Schutz bieten. 75 Meter unter der Erde liegt die tiefste Station. Allein unter Tage sind rund 472 Kilometer Gleise verlegt.
An der Haltestelle Ploschtschad Rewoljuzii (Revolutionsplatz) sind die Vorrichtungen zu sehen, mit denen die Halle hermetisch versiegelt werden kann. Um dafür Platz zu schaffen, wurde auch die Zahl der lebensgroßen Skulpturen von sogenannten Vaterlandsverteidigern reduziert. Stalin selbst lobte einst, dass sie aussehen wie echte Menschen - einer ist da mit einem Wachhund, ein Wahrzeichen der Haltestelle. Die Schnauze des Vierbeiners schimmert hell, weil Passanten sie im Vorbeigehen streicheln und so blank reiben. Das soll Glück bringen.
Die Moskauer schätzen ihre Bahn im Sommer bei Hitze als Ort der Kühlung, im Winter zum Aufwärmen - und als im Großen und Ganzen sicheres und zuverlässiges Verkehrsmittel. Auch ein Unfall, bei dem im Jahr 2014 Waggons entgleisten und 22 Menschen starben, sowie Terroranschläge taten der Beliebtheit des Verkehrsmittels keinen Abbruch.
Der Puls der Metro schlägt in einem eigenen Rhythmus
Feierten die Verantwortlichen es noch 2021 als Sensation, dass auch Frauen als "Maschinist" Züge steuern durften, reden Planer nun vom autonomen Fahren und führerlosen Zügen. Kabelloses Internet und das von Datenschützern argwöhnisch beobachtete "Face Pay", bei dem registrierte Passagiere einfach nur mit ihrem Gesicht bezahlen können, gelten längst als Standard.
Marmor ist noch immer ein beliebter Baustoff. Auf der neuen großen Ringlinie spielen Architekten aber eher mit futuristischen Designs. Und auch die Fahrt in der Kabine eines Metro-Zugs durch die hellen unterirdischen Tunnel mutet an wie in eine Reise in die Zukunft. Bürgermeister Sobjanin will bis 2030 weitere 71,4 Streckenkilometer und 31 Stationen bauen lassen, um, wie er sagt, noch mehr Menschen aus der staugeplagten Stadt von der Straße in die Metro zu locken.
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