Extremfrühchen Heute überleben Babys, die weniger als 500 Gramm wiegen. Doch um welchen Preis?

geo-white von Charlotte Köhler
Das Leben von Kindern, die vor der 24. Schwangerschaftswoche geboren werden, steht auf der Kippe – eigentlich. Doch heute gelingen der Medizin kleine Wunder.
Frühchen am Inkubator
625 Gramm leicht kam Jasper auf die Welt. Extrem früh, in der 23. Schwangerschaftswoche geboren, war seine erste Lebensstation der Inkubator des Southmead Hospital in Bristol. Und seine Rettung
© Giulio Di Sturco

Hinter der blauen Tür von Zimmer 6 schreit Meghan Livermore um Hilfe. Sie liegt in den Wehen, obwohl sie noch keine haben dürfte. Vor zwei Stunden hatte die Hebamme Paula Strange mit einem Blick zwischen Megans Beine gesagt: "Sie bekommen heute Ihr Baby." Viel zu früh, das weiß Megan jetzt, wird auch diese Schwangerschaft enden. In einem Sessel am Kopfende des Bettes sitzt ihr Verlobter Jordan Williams. Er hält noch immer die Scheibe Toast in der Hand, die ihm eine Schwester gegeben hatte, zusammen mit ein wenig Butter und Orangenmarmelade." Sie müssen etwas essen", hatte sie gesagt und das Tablett auf seinen Schoß gelegt. Er wird nicht einen Bissen nehmen.

Die Hoffnung von Megan und Jordan liegt in einer Tabelle. Ein Arzt hat ihnen die Grafik erklärt: Mintgrüne Punkte zeigen, wann ein Frühchen wahrscheinlich überlebt, und pinkfarbene Punkte, wann es stirbt. Doch dieses Baby, von dem Megan nicht weiß, welches Geschlecht es hat, habe eine Chance. Das hatte Charles Christoph Röhr so gesagt.

265 Gramm Geburtsgewicht: Das leichteste Frühchen Bayerns

Als die kleine Marie am 15. Februar 2025 in der Kinderklinik Dritter Orden in Passau zur Welt kam, wog sie kaum mehr als ein Päckchen Butter. Sie wurde in der 27. Schwangerschaftswoche geboren, verbrachte also einige Tage mehr im Mutterleib als Megan Livermores Kind. Dass sie so wenig wog, lag daran, dass sie über die Plazenta nicht ausreichend mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt worden war. Trotzdem verlief ihre Entwicklung besser, als das Team des Klinikums zu hoffen gewagt hatte. Passau bemüht sich genau wie das Southmead Hospital in Bristol, Frühchen zurückhaltend zu behandeln, Eingriffe auf ein Minimum zu beschränken und möglichst viel Körperkontakt mit den Eltern zu bieten. So wurde Marie nicht intubiert, sondern erhielt zum Atmen lediglich zusätzlichen Sauerstoff. Wenige Stunden nach der Geburt durfte sie bereits auf der Brust ihrer Mutter Nadine Kopfinger liegen. Anfang Juni brachte sie immerhin über 1300 Gramm auf die Waage – und erlangte als leichtestes lebendes Frühchen Bayerns Berühmtheit.

Röhr ist Neonatologe, Arzt für Früh- und Neugeborene. In Bristol holt er Kinder auf die Welt, die so klein sind, dass er sie in der Hand halten kann wie einen Apfel. Oft sind es Babys, die bis zu 18 Wochen zu früh geboren wurden, früher als früh.

Mutter mit Baby im Krankenbett und drumherum Krankenschwestern
Zwischen Schläuchen hält Megan Livermore ihren Sohn Ezra zum ersten Mal im Arm. Sie wagt nicht, ihn zu küssen, bis das Team der Geburtsstation in Bristol ihr gut zuredet. Der Körperkontakt ist wichtig, bevor Ezra gleich auf die Intensivstation kommt
© Giulio Di Sturco
Schwangere Frau mit Partner am Bett
Bei Megan haben die Wehen eingesetzt, viele Wochen zu früh. Im Kreißsaal versucht Jordan Williams seiner Verlobten Mut zu machen. Und sich selbst
© Giulio Di Sturco

Als an diesem Morgen Megans Wehen einsetzen, schlafen die meisten Patientinnen auf der Geburtenstation des Southmead Hospital noch. Draußen fällt im Dunkel der Regen, drinnen mischt sich Heizungsluft mit dem beißenden Geruch von Desinfektionsmittel, das Neonröhrenlicht vertreibt die Nacht.

Erschienen in GEO Nr. 10 (2023)