Jahrestag Hanau Çetin Gültekin über seinen ermordeten Bruder: "Ich habe Gökhan am Grab versprochen, ihn unsterblich zu machen"

Çetin Gültekin verlor bei dem rassistischen Anschlag in Hanau vor vier Jahren seinen Bruder. Nun hat er ein Buch gegen das Vergessen geschrieben – und hofft, endlich trauern zu können.
Cetin Gültekin lehnt an ein Fenster und schaut in die Kamera
Çetin Gültekin, 49, will, dass jeder Gökhans Geschichte kennt. Die Arbeit an dem Buch hat ihn an seine Grenzen gebracht
© Ramon Haindl

Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel erschien Anfang des Jahres im stern. Anlässlich des vierten Jahrestags zum Attentat in Hanau veröffentlichen wir ihn erneut. 

 

Herr Gültekin, am 19. Februar jährt sich der rassistische Anschlag von Hanau zum vierten Mal. Seit diesem Tag kämpfen Sie: für Aufklärung und Konsequenzen, gegen Rassismus und Hass. Hatten Sie schon einmal die Gelegenheit, um Ihren Bruder zu trauern?
Nein, ich kam noch immer nicht dazu. Ich bin zwar permanent traurig, aber die Trauerphase hat noch nicht stattgefunden. Ich hoffe, dass sie beginnen kann, wenn mein Buch erscheint. Auch wenn ich fürchte, dass ich dann erst mal in ein tiefes Loch falle.

Weshalb?
Ich bin am Ende meiner Kräfte. Fast drei Jahre habe ich intensiv an diesem Buch gearbeitet. Bis heute hat mich niemand, egal, welche Macht, egal, welche Gewalt, in die Knie gezwungen. Dieses Buch schon. Ich bin eigentlich tot, aber zu faul, umzufallen.

Warum haben Sie sich entschlossen, die Geschichte Ihres Bruders aufzuschreiben?
Ich habe Gökhan am Grab versprochen, ihn unsterblich zu machen. Sein Leben ist eine so einmalige Geschichte, er hat immer wieder zu Lebzeiten gesagt: "Abi, ich habe so ein krasses Leben, daraus kann nur ein Buch oder ein Film werden."

Ihr Vater kam in den 1960er-Jahren als "Gastarbeiter" aus der Osttürkei nach Deutschland. 
Später holte er meine Mutter nach Deutschland. Ich wurde 1974 in Hanau geboren. Dann kam meine Schwester zur Welt, leider mit einem Herzfehler, sie starb ein paar Tage nach der Geburt. Meine Mutter wurde depressiv. Es brauchte ein großes Ereignis, um sie wieder ins Leben zurückzuholen. Und dieses Ereignis war mein Bruder. Gökhan kam 1982 zur Welt. Wir hatten eine schöne Kindheit.

Ich weiß, dass mich keine Schuld trifft. Aber als großer Bruder habe ich keine Ruhe mehr

Wie war das Verhältnis zu Ihrem Bruder?
Ich erinnere mich noch, wie meine Mutter aus dem Krankenhaus kam und die Babytasche abstellte, um ihre Jacke aufzuhängen. Da habe ich mich zur Tasche runtergebeugt und meinen Bruder das erste Mal angesehen. Ich war acht Jahre alt, und als großer Bruder hat sich direkt ein Beschützerinstinkt entwickelt. Ich wollte Gökhan immer und überall schützen. Aber es ist mir nie gelungen.

Das werfen Sie sich vor?
Ja, ich habe große Schuldgefühle. Ich stelle mir immer wieder dieselben Fragen: Welchen Fehler habe ich gemacht? Was hätte ich wann tun müssen, damit er nicht zu dieser Zeit an diesem Ort gewesen wäre? Und wo war ich? Es fühlt sich an, als hätte ich Millionen Ameisen in meinem Kopf. Gökhan hat so viele Schicksalsschläge erlitten, und immer, wenn er mich gebraucht hätte, war ich nicht bei ihm. Auch nicht, als er ermordet wurde.

Sie konnten ja nicht immer bei ihm sein.
Ich weiß, dass mich keine Schuld trifft. Aber als großer Bruder habe ich keine Ruhe mehr. Deshalb kämpfe ich heute so sehr um Gerechtigkeit für ihn.