Caritasprojekt gegen Komasaufen Mit Rauschbrille gegen Alkoholabsturz

Von Johannes Gernert
Bewusstlos liegen sie auf Parkbänken oder im Gebüsch. Sie sind manchmal erst 13 oder 14 Jahre alt. Sauf-Abstürze bei Teenagern nehmen drastisch zu. 2000 wurden in Berlin 156 Jugendliche wegen einer Alkoholvergiftung behandelt, 2007 waren es 335. Zwei Sozialarbeiter versuchen, etwas dagegen zu tun.

Das Abendessen in der Wohngruppe hat sie verpasst, es gab Stress mit einer Betreuerin. Eigentlich ist sie mit zwei Freundinnen verabredet, aber da kommt sie zu spät. Kathrin setzt sich an diesem kalten Herbstabend also zu zwei Jungs in den Park, die sie öfter mal gesehen hat. Die beiden trinken Bier, das schmeckt ihr nicht. Sie legen zusammen und holen eine Flasche Wodka und ein bisschen Orangensaft beim Spätkauf. Kathrin* ist 15, aber ihren Ausweis wollte dort noch nie jemand sehen.

Sie würde gerne noch etwas essen. Irgendwie vergisst sie das dann. Der Wodka macht angenehm warm und nach einer Weile nervt auch der Typ gar nicht mehr so sehr, der sie die ganze Zeit schon anfasst. Sie lässt sich von ihm küssen. Als ihre Blase immer heftiger drückt, will keiner sie zum Gebüsch begleiten. Sie kriegt dort gerade noch so die Hose wieder hoch, dann wird ihr immer schwindliger. Alles dreht sich. Sie muss sich hinlegen.

Caritas-Projekt "Nachhalt" betreut Komasäufer

Als Kathrin wieder aufwacht, sieht sie selbstgemalte Kinderbilder an weißen Wänden. Irgendwo schreien Babys. Draußen auf dem Flur laufen Menschen auf und ab. In ihrem linken Arm steckt eine Kanüle, ihr rechter Fuß ist verbunden, er sticht. Ihre Spucke schmeckt säuerlich. Sie trägt einen frisch gewaschenen Krankenhaus-Kittel. Die Schwester sagt, ihre Sachen seien dreckig gewesen. Die junge Frau mit dem silbernen Stecker in der Nase, die sich dann zu ihr ans Bett setzt, fragt, ob sie weiß, dass sie eine Alkoholvergiftung hatte, 2,0 Promille, und ob es ihr besser geht? Ja, sagt Kathrin. Das liegt an der Kochsalzlösung, sagt die junge Frau, und zeigt auf die Kanüle. Früher hätte man den Magen ausgepumpt. Die junge Frau erzählt, dass sie Ulrike Friedrich heißt und bei einem Caritas-Projekt arbeitet, dass sich "Nachhalt" nennt. Es geht darum mit Jugendlichen über Alkohol zu sprechen, die viel zu viel davon getrunken haben, und deshalb auf die Kinderstation im Krankenhaus gebracht worden sind.

Passanten rufen Notarzt

In Berlin passiert das fast an jedem Wochenende, manchmal mehrfach. Im Jahr 2000 wurden in der Hauptstadt noch 156 Kinder und Jugendliche wegen einer Alkoholvergiftung stationär behandelt, 2007 waren es schon 335. Eine bundesweite Statistik der Krankenkasse AOK zeigt: Die Zahl junger Leute, die wegen akuter Intoxikation oder Störungen der Psyche und des Verhaltens im Krankenhaus landeten, ist zwischen 2006 und 2007 um gut 16 Prozent gestiegen. Aktuelle Studien belegen: Jugendlichen trinken früher und heftiger. Die Sozialpädagogin Ulrike Friedrich und ihr Kollege Johannes Olschewski haben bis Mitte Dezember 141 Teenager in Berliner Krankenzimmern besucht, die in Parks oder auf Spielplätzen gefunden wurden. Oft hatten sie Wodka getrunken. Meist haben Passanten den Notarzt gerufen.

Politiker sind längst alarmiert. Sie haben Flatrate-Partys verboten, täuschend süße Mixgetränke teurer gemacht und denken darüber nach, Werbung für Alkohol zu untersagen. Trifft das den Kern dessen, was eine Boulevardzeitung die "Suff-Seuche" nennt? Friedrich kennt eine zwei Jahre alte Studie, die bei Teenagern nach den Motiven fürs Trinken gesucht hat und feststellt, dass es vor allem soziale sind: Die Party soll besser werden. Schulstress spielt außerdem eine Rolle, und Ärger zuhause. Die Gründe scheinen ähnlich wie bei den Erwachsenen. Aber es gibt eine Absturz-Ursache, die sich unterscheidet, eine, gegen die Friedrich und Olschewski etwas unternehmen können: Unwissen. Ein kleines Glas Wodka enthält soviel Alkohol wie 0,33 Liter Bier. Wenn Johannes Olschewski das erzählt, schauen die Schüler überrascht. Alkohol ist ein Nervengift, ein Zellengift. Das weiß kaum jemand, weil Bier, Wein und Schnaps überall getrunken werden. Warnhinweise, wie auf Zigarettenschachteln, gibt es nicht.

Was Alkohol anrichten kann

Für eine neue Kampagne wird über Schock-Fotos auf Bierdeckeln nachgedacht. In ihrem Berliner Büro mit den vielen Zimmerpflanzen und den Aufklärungs-Postern an den Wänden, haben Olschewski und Friedrich auch eine Rauschbrille im Regal, um den Zustand von 1,3 Promille zu simulieren. Sie sieht aus, als könnte man damit tauchen. Wer sie trägt, greift häufig daneben. Es geht ihnen darum, ein Gefühl dafür zu vermitteln, was Alkohol anrichten kann. Sie sind beide Mitte 20. Die Jugendlichen hören ihnen zu. Sie wirken nicht wie Lehrer.

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Ulrike Friedrich sagt Kathrin an diesem Samstagmorgen, dass das, was sie "Filmriss" nennt, eine kurzzeitige Gedächtnisstörung ist, dass dieser Teil des Abends wie gelöscht ist und dass sie ihn höchstens in Bruchstücken rekonstruieren können wird. Vielleicht ist mit den Jungs etwas passiert, woran sie sich gar nicht erinnert. Friedrich stellt das Wort Straftat in den Raum. Kathrin hätte vor ein Auto laufen können oder im Gebüsch erfrieren.

Tod im Freien

Der Berliner Schüler Lukas, 16 Jahre alt, der nach Dutzenden Tequilla nicht mehr aus dem Koma aufgewacht ist, hat damit einem Phänomen den Namen gegeben: Koma-Saufen. Es ist der spektakulärste Alkoholtod eines Teenagers gewesen, aber nicht der einzige. Im November 2008 wird bei Görlitz die Leiche eines 14 Jahre alten Jungen gefunden. Er trägt keine Schuhe und Socken mehr. Sein Körper war an die großen Mengen Schnaps, die er getrunken hatte, wohl nicht gewöhnt, teilt die Polizei mit. Im Frühjahr stirbt eine 19 Jahre alte Frau zuhause im Bett. Ihre Eltern hatten sie volltrunken aus der Disco abgeholt.

Friedrich hat den Eindruck, dass viele, die bei ihnen landen, einen großen Druck spüren, etwas erreichen zu müssen. Praktikum, Bewerbung, Job. "Entwicklungsaufgaben bewältigen", sagt sie. Vielleicht lenkt der Alkohol davon ab. "Die Mehrheit kommt aus guten Elternhäusern", beobachtet sie, "gesichertes Milieu"- Eine Erhebung unter Schülern in Hamburg und Berlin stellt dagegen fest: "Rauschtrinker" gehen eher zur Hauptschule als ans Gymnasium, sind seltener Migranten und tendenziell älter.

Klettern gegen den Absturz

Die Sozialpädagogin will in ihren Gesprächen nicht nur schocken und warnen, sondern auch etwas erfahren. Sie hört sich an, wie Kathrin, weil sie zu viel kiffte, nicht zur Schule ging und ständig aggressiv war, in eine betreute Wohngruppe musste. Kathrins Mutter ist Büroangestellte. Sie streiten oft. Ihr Vater ist Alkoholiker. Auch das kommt nicht selten vor. Kathrin ist vor eineinhalb Jahren schon einmal zusammengebrochen, aber alleine trinkt sie nie. Sie weiß, wo das hinführen kann. Sie hat ihren Vater vor Augen – als abschreckendes Beispiel. Kathrin kommt nach dem Samstagmorgen im Krankenhaus einige Male in die Beratungsstelle zu Friedrich. Die beiden reden über den Ärger mit ihrer Mutter, über Körpergewicht und Promillewerte, darüber, was man am besten macht, wenn Freunde zu viel getrunken haben.

Die meisten wollen ihre Kumpels möglichst schnell nach Hause schaffen, sagt Friedrich. Irgendwo abliefern. Sie denken nicht daran, dass die Bewusstlosen an Erbrochenem ersticken könnten, dass es besser ist, wenn sie nicht alleine sind. Viele haben Angst, den Krankenwagen zu rufen. Deshalb tun das oft Leute, die zufällig vorbeikommen. Friedrich ist sich nicht sicher, ob es etwas bringt, das Trinken in der Öffentlichkeit zu verbieten, so wie es am Berliner Alexanderplatz gerade passiert ist, weil dort immer regelrechte Teenie-Saufgelage stattfanden. Auch süddeutsche Städte haben deswegen Verbots-Zonen eingerichtet. Die Schwierigkeiten verlagern sie damit möglicherweise nur – und verstärken sie schlimmstenfalls sogar. "In Privatwohnungen oder Jugendräumen ist das vielleicht noch gefährlicher", sagt Friedrich, "da kommt am Ende gar niemand vorbei."

Mit Kathrin und einigen anderen ist sie nach mehreren Beratungstreffen deshalb zum Klettern gegangen. Sie sollten sehen, was es heißt, an Grenzen zu gehen, ohne sich zu schaden. Sie mussten sich im Team helfen. Das klingt alles ziemlich klischeehaft, aber wenn ein Freund nach zwei Wodka die Augen plötzlich nicht mehr aufmacht, ist genau das entscheidend. Kathrin ist an diesem Tag ziemlich hoch geklettert – ganz ohne abzustürzen.