Als Eleonora Furlan die Nächte damit zubrachte, die Kleider und Maske für ihr Kostüm zu nähen, sahen ihre Eltern fassungslos zu. Wie kann man so viel Zeit und Geld für ein Hobby aufwenden, fragten sie sich. Doch Eleonora arbeitete weiter, bis die Eltern verstanden, dass es ihrer Tochter um viel mehr ging als nur um eine Verkleidung.
Der Held aus Furlans Kindheit war Umbreon aus der Videospielserie Pokémon. Nun wurde die junge Englischlehrerin aus Oberitalien selbst zu diesem Fantasiegeschöpf mit langen schwarzen Ohren und gelben Streifen. Sie schlüpfte in die Rolle, kannte alle Texte und Szenen. Versessen werkelte sie an ihrem Kostüm. Eleonoras Vater war beeindruckt, mit welcher Kunstfertigkeit seine Tochter auch die Waffe der Figur selbst herstellte. Schließlich bot er ihr Hilfe an.
So wie die Furlans sind die meisten Eltern skeptisch, wenn ihre Kinder in die Rolle ihres Lieblingshelden schlüpfen und in eine Fantasiewelt der Comic-, Zeichentrick- und Videospiel-Figuren eintauchen, zu der die ältere Generation keinen Zugang hat. "Alle meine Protagonisten haben mir erzählt, dass ihre Eltern ihnen nicht ähnlich seien", sagt der Fotograf Niccolò Rastrelli. Bei seinem Projekt "They don’t look like me" (Sie sehen nicht so aus wie ich) will er den Kontrast zeigen zwischen den sogenannten Cosplayern und der Gesellschaft, die sie umgibt. "Cosplay" bedeutet übersetzt Kostümspiel; es geht darum, eine Fantasy-Figur möglichst originalgetreu nachzustellen.
Beim Cosplay werden die Fans selbst zu Stars
"Ich habe mich von einer Fotoarbeit von John Olson aus den 1970er-Jahren inspirieren lassen, der Rockstars wie Elton John und Frank Zappa für das US-Magazin 'Life' im Haus ihrer Eltern fotografiert hatte", sagt Rastrelli. Wie damals die Rockstars haben auch die Superhelden der Fantasy-Szene von heute äußerlich wenig gemeinsam mit ihren Eltern. "Diese beiden Welten wollte ich zueinander in Kontrast setzen", sagt der Italiener. Viele seiner Arbeiten beschäftigen sich mit dem Thema Identität.

Rachele Sorce hat ihrer Heldin She-Ra aus der Trickfilmserie "She-Ra and the Princesses of Power" etwas Majestätisches hinzugefügt. Weißer langer Umhang und Stiefel bis übers Knie, goldene Ornamente an Helm, dazu Epauletten und Gürtel. Sie nimmt eine Machtpose ein wie in einem Renaissancegemälde. Die Angehörigen verschwinden im Hintergrund. Cosplayer, die das Aussehen einer Figur verändern, nennt man in der Szene "Originals".
Eleonora Della Lena Guidiccioni hat aus ihrem Helden Sheik aus dem Videospiel "The Legend of Zelda" hingegen eine weibliche Version mit viel Haut und langen, blonden Zöpfen gemacht. Wer das Geschlecht wechselt, gilt als "Crossplayer".
Simone Vullo und seine Schwester Valentina Annoni interpretieren zwei Protagonisten aus der Verfilmung des Stephen-King-Romans "Es". In der Geschichte entführt Es (Simone) Beverly Marsh (Valentina). Am Anfang waren sie alle nur Fans ihrer Helden. Beim Cosplay werden die Fans selbst zu Stars.
Cosplay hat Ursprünge in der US-Science-Fiction-Szene. Die Bezeichnung aber wurde in den 80er-Jahren in Japan geprägt. Beeinflusst von der Manga- und Anime-Szene entwickelte sich dort eine Subkultur. In Japan ist der Hype um Comic-, Trickfilm- und Videospielfiguren so groß, dass fiktive Figuren einen Heldenstatus erreichen können. In den 90er-Jahren kamen die ersten Cosplay-Events nach Europa. Die Deutsche Cosplaymeisterschaft findet seit 2007 im Rahmen der Frankfurter Buchmesse statt. Auf der Convention Connichi in Kassel qualifiziert sich jedes Jahr ein Paar für die Teilnahme am World Cosplay Summit in Japan, einer Art Weltmeisterschaft.
"In Italien gibt es jedes Wochenende irgendwo ein Cosplay-Event", sagt Rastrelli. Highlight ist das Comic-Festival in Lucca, wenn die Szene vier Tage lang die Straßen der ansonsten ruhigen Kleinstadt in der Toskana überspült. Man erlebt Zugehörigkeit in der Community, bestaunt die Outfits, fotografiert und filmt sich gegenseitig. "Spontan finden Leute zusammen und spielen Szenen aus einer Fantasy-Saga nach", so Rastrelli. Es werden Wettbewerbe um das beste Kostüm ausgetragen. Bilder und Videos überschwemmen die sozialen Medien. Die Erfolgreichsten haben so viele Follower auf Instagram, dass sie Sponsoren bekommen. Auch die Cosplay-Welt hat ihre Influencer.