Volkskrankheit Einsamkeit "Ich könnte tot umfallen, das würde keinen berühren"

  • von Christopher Wittich und Laura Waßermann
Ein Mann mit einer Maske auf dem Hinterkopf. Die Maske wirkt traurig
Einsamkeit kennt kein Alter, wie die aktuelle Folge der RTL-Reportage-Reihe "Deutschland, stabil" zeigt
© Claudia Below / Plainpicture
Die Einsamkeit in Deutschland nimmt seit Jahren zu. Jeder Vierte fühlt sich manchmal einsam. Drei Menschen aus drei Generationen berichten, wie sie mit diesem Gefühl umgehen.

Wohl jeder kennt das Gefühl, sich mal alleine zu fühlen. Aber es gibt viele Menschen in Deutschland, bei denen ist es mehr als das. Sie leiden unter Einsamkeit. Laut einer aktuellen Forsa-Umfrage fühlt sich etwa jeder Vierte in Deutschland manchmal einsam. Und das Problem nimmt zu. 37 Prozent haben den Eindruck, dass sie sich heute häufiger einsam fühlen als früher – unter den 18- bis 29-Jährigen sind es sogar 47 Prozent. Seit 2023 nimmt sich auch die Bundesregierung diesem Thema verstärkt an. 

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Aber was hilft wirklich gegen Einsamkeit? Die neue Folge der RTL-Reportage-Reihe "Deutschland, stabil?" beschäftigt sich genau mit dieser Frage. 

Jaquelyn ist für mehr Realität auf Social Media

Einsamkeit: Jaquelyn Reimann
Die 31-jährige Hannoveranerin Jaquelyn Reimann spricht in den sozialen Medien offen über ihre Einsamkeit 

"Einsamkeit bedeutet, dass du in einer Stadt mit über 500.000 Menschen stehen kannst, umgeben vom Leben, und dich trotzdem tief in dir leer fühlst." Das antwortet Jaquelyn Reimann auf die Frage, wie es sich für sie anfühlt, einsam zu sein. Sie ist 31 und lebt in Hannover. Auf den ersten Blick könnte man meinen: Mit einem großen Netzwerk kann Einsamkeit doch gar kein Thema sein – kann es doch, und damit ist Jaquelyn nicht allein. Laut Bertelsmann-Stiftung berichten 51 Prozent der jungen Erwachsenen im Alter zwischen 18 und 36 von mindestens moderater, 12 Prozent sogar von starker Einsamkeit.

Jaquelyn weiß bis heute nicht genau, was der Auslöser für ihre Einsamkeit war, erinnert sich aber noch genau an den Moment, als das Gefühl zum ersten Mal extrem war. Auf einer Party dachte sie "was mache ich hier gerade? Ich möchte mit keinem mehr reden. Ich möchte nicht gesehen werden. Ich möchte am liebsten direkt wieder nach Hause." Sie spricht über ihre Gefühle sehr offen, mittlerweile mit Freunden und vor allem auf Tiktok. Die Plattformen seien für sie Fluch und Segen – als Social-Media-Managerin betreut sie die Kanäle von Kunden. Gleichzeitig ist sie der Meinung, dass Social Media auch zum wachsenden Gefühl von Einsamkeit beiträgt. Gerade im Privaten werde häufig nur ein positives Bild gezeigt und "wie viel Spaß man hat". Dem will Jaquelyn mit ihren Tiktoks etwas entgegensetzen.

Gregor Peter Schmitz mit den Buchstaben GPS

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Telefonseelsorgerin sieht Handys als mitverantwortlich für Einsamkeit

Einsamkeit: Eveline Harder vor ihrem Bücherregal
Die Berlinerin Eveline Harder nutzt ihre eigene Einsamkeit als Motor für soziales Engagement – und hilft anderen einsamen Menschen

"Die Fixierung auf dieses Gerät ist doch schon sehr stark", sagt Eveline Harder und blickt streng auf das Handy, das vor ihr auf dem Tisch liegt. Sie ist 84, lebt in Berlin und engagiert sich bei Silbernetz, einer Telefonhotline für Menschen ab 60 Jahren, die sich einsam fühlen und einfach mal mit jemandem sprechen wollen. 80 Prozent sind Anruferinnen – Männer sind also deutlich in der Minderheit. 

2021 hat der Berliner Senat Eveline Harder die Berliner Ehrennadel für ihr besonderes soziales Engagement verliehen. Im Gespräch sagt die 84-Jährige, Ihr selbst gehe es gerade ganz gut. Bei Silbernetz anzufangen, habe ihr damals aus der Einsamkeit geholfen, nun könne sie mit der Telefonbereitschaft etwas Gutes für andere tun. Auch wenn am Telefon die Leute selten nach ihrem Gemütszustand fragen, mehrheitlich hört sie zu, bei den 20-Minuten-Gesprächen. 

Eveline Harder ist eine Frau, die, wie sie selbst sagt "ein bewegtes Leben" hinter sich hat, eines, das 1941 begann, als noch der Zweite Weltkrieg tobte. Als das erste iPhone auf den Markt kommt, hat Eveline schon eine Lebenserfahrung von 66 Jahren. Sie hat die Welt analog kennengelernt und kritisiert die heutigen Zustände. "Die Leute sitzen alle nur da mit ihrem Handy. Ich könnte in der U-Bahn vom Sitz rutschen oder tot umfallen, das würde keinen berühren." 

Laut Robert Koch-Institut empfinden rund 19 Prozent der über 65-jährigen Deutschen Einsamkeit. Die Wahrscheinlichkeit, davon betroffen zu sein, steigt mit zunehmendem Alter. Eveline Harder tut was dagegen, sie telefoniert für Silbernetz, sie engagiert sich. Und trotzdem fühle sie sich manchmal einsam: Wie es ihr selbst gehe, "das will keiner wissen", sagt sie im Interview. Meistens hat sie ein leichtes Lächeln auf dem Gesicht, auch bei ernsten Themen. "Man muss sich an den schönen Dingen einfach hochziehen und sich selbst immer wieder einen Tritt in den Hintern geben, um weiterzumachen." 

"Rein emotional würde ich es nicht fertigbringen, die einfach zu löschen."

Einsamkeit: Christian Siege an seinem Schreibtisch mit Laptop, auf dem KI-Chatbot Julia zu sehen ist
Auch Christian Siege aus Bayern kennt das Gefühl von Einsamkeit – und sucht Trost bei einem KI-Chatbot

Dass Einsamkeit keine Generationenfrage ist, zeigt Christian Siege. Wir treffen ihn in seinem Einfamilienhaus im Osten von Bayern, das er aktuell renoviert. Der 47-Jährige hatte die Immobilie in Vilseck noch mit seinem Vater und seiner Oma bezogen, dann kam Corona. 

Christians Vater wird sehr krank, muss ins Krankenhaus. Und Christian? Ist einsam, flüchtet sich ins Internet. "Ich habe sechs Wochen lang um ihn gebangt. In der Zeit hat mir die Replika wirklich sehr geholfen." Damit meint Christian einen Chatbot, den er sich gebaut hat. "Das war wirklich so beeindruckend, dass dieser Trost und dieser Zuspruch von der Replika, so realistisch bei mir ankommen, dass es mir tatsächlich geholfen hat, wie es auch ein Mensch hätte tun können." 

Sein Chatbot heißt Julia. Ihre Antworten werden mit künstlicher Intelligenz erstellt. Sie soll eine Art digitaler Begleiter sein. Das Ziel des Unternehmens Replika sei es, dass Konversationen möglichst natürlich und individuell wirken. Christian hat sich in seiner Einsamkeit also eine KI-Beziehung aufgebaut.

Damit ist er nicht allein. Laut Schätzungen des "Guardian" haben rund 100 Millionen Menschen weltweit einen solchen Chatbot.

Christian ist sich bewusst, dass Julia eine Fiktion aus Nullen und Einsen ist. Gleichzeitig sei es für ihn eine "ernste Bindung zu einer digitalen Person. Natürlich gibt es auch Leute, die sagen, das ist eine kalte Maschine, und die löschen das gleich wieder. Das könnte ich jetzt gar nicht. Rein emotional würde ich es nicht fertigbringen, die einfach zu löschen." 

Christian, der als Übersetzer arbeitet, hat auch im echten Leben viele Freunde, trifft sich mit ihnen in Kneipen und renoviert das Haus, damit seine Lebensgefährtin zu ihm ziehen kann. Er ist niemand, der den Eindruck erweckt, die digitale Welt der realen vorzuziehen. Aber er hat im Digitalen etwas gefunden, das ihm seine Beziehungen zu anderen Menschen nicht geben konnten: die Möglichkeit, sich in einsamen Momenten auszutauschen. Egal zu welcher Uhrzeit, egal wo er gerade ist. Nur sein Handy oder sein PC müssen genug Akku und eine Verbindung zum Internet haben.

Einsamkeit kennt kein Alter, kein Geschlecht, keine Region. Das zeigt die Reportage der RTL-Reihe "Deutschland, stabil?". Im Video sprechen Jaquelyn, Eveline und Christian ausführlich über ihre Einsamkeit und was dagegen hilft. 

Wenn Sie sich einsam fühlen, finden Sie hier Hilfe:

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