Herr Erzbischof, Sie haben auf die Erklärung von Papst Franziskus zur Segnung "irregulärer" Paare mit Begeisterung reagiert. Waren Sie vorab informiert?
Stefan Heße: Ich war ebenso überrascht wie viele und habe es nicht kommen sehen. Es gab für mich keinerlei Hinweise, dass so etwas im Raum steht, weshalb ich das Schreiben als vorgezogenes Weihnachtsgeschenk bezeichne.
In Deutschland werden gleichgeschlechtliche Paare seit Jahren von katholischen Priestern gesegnet – gegen den Willen des Vatikans. Haben Sie selbst eine solche durchgeführt?
Nein, soweit ich mich erinnere, wurde ein solcher Wunsch auch noch nicht an mich herangetragen. Aber ich habe in der vergangenen Woche ein Paar gesegnet, Mann und Frau, von denen einer bereits verheiratet war, die mich spontan angesprochen hatten. Das ist am Rande eines Gemeindefestes geschehen, ich habe ein paar angemessene Segensworte gefunden und alle waren überglücklich.
Nicht alle sind überglücklich: Afrikanische Bischofskonferenzen haben erklärt, das keinesfalls umsetzen zu wollen, ein Bischof aus Minnesota bekundet, Homosexuelle nur einzeln, aber nicht als Paar zu segnen, weil er sonst möglicherweise Sünde autorisiere. Wie kann das sein?
Das Besondere an diesem Dokument ist, dass es in sogenannten "irregulären Beziehungen" Wertvolles ausmacht. Es wird klar gemacht, dass jeder Mensch, wenn er Sehnsucht nach der Zuwendung Gottes hat, diese auch zugesagt bekommen soll. Jeden einzeln zu segnen, war auch bisher theologisch kein Problem, es geht explizit um Paare, die nicht ins Schema passen. Es ist ein Ansatzpunkt, darüber nachzudenken, diese Beziehungen neu zu sehen. Der Papst sagt hiermit, dass es viel mehr zu beachten gilt als die bloße Norm. Gnade geht weit über den normativen Weg hinaus. Eine starke Aussage!
Obgleich diese Art von Segnung bisher explizit nicht vorgesehen war, haben viele Priester sie praktiziert, darunter Kardinal Marx. Nun gibt es eine genaue Einschränkung: Kein festlicher Rahmen, keine hübsche Kleidung, nur spontan, nicht während eines Gottesdienstes. Das klingt nicht wirklich nach der Öffnung, die sich viele wünschen…
Ich sehe es umgekehrt. Es ist keine Einschränkung, sondern eine Öffnung. Wenn es bisher praktiziert wurde, dann war es offiziell gesehen nicht vorgesehen. Nun wird der Begriff des Segnens umfassender gedeutet. Es ist keine neue Moraltheologie, sondern eine Ausweitung des Segensbegriffs. Das ist ein plausibler Weg, den wir übrigens bereits im Synodalen Weg so überlegt hatten. Viele gleichgeschlechtliche und geschieden wiederverheiratete Paare leben eine Zugewandtheit, eine Opferbereitschaft, eine Treue, die endlich gewürdigt wird.

Die Erklärung bleibt hinter den Forderungen der deutschen Bischofskonferenz im Rahmen des synodalen Wegs zurück. Wird diese damit obsolet?
Mein Eindruck ist, dass die Erklärung des Papstes darüber hinausgeht. Wir werden das aber sicher demnächst diskutieren, was das im Einzelnen bedeutet.
Viele Paare empfinden den Begriff "irregulär" als diskriminierend. Können Sie das als Erzbischof Hamburgs, der Sie mit Ihrem Domsitz inmitten des queeren Viertels St. Georg leben, nachvollziehen?
Wir sind hier mittendrin, sie sind bei uns mittendrin. Queere Menschen kommen in die Gottesdienste, ich kenne einige persönlich, und bin dankbar, dass sie selbstverständlich Teil unserer Kirche sind und sich in hohem Maße einbringen. So unkompliziert und normal sollte es sein.
Aber "normal" ist es ja dennoch nicht, sonst würde man festliche Segnungen bei einem Gottesdienst zulassen, und nicht vorscheiben, dass es keinesfalls als Trauung missverstanden werden könnte…
Wir haben das Sakrament der Ehe, das nun einmal sehr klar definiert ist. Ich würde mir einen besseren Terminus als "irregulär" wünschen, der leider abschätzig gehört werden kann. Wenn Ihnen eine bessere Formulierung einfällt, sagen Sie es bitte. Der Gedanke des Papstes ist ein inklusiver, er muss jedoch bei einer deutlichen Unterscheidung bleiben. Gleichzeitig geht er den wichtigen Schritt und sagt: keinen ausschließen, keinen diskriminieren, keinen herabwürdigen. Manche fragen sich, welchem Programm dieser Papst folgt…

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…andere fragen, ob er überhaupt ein Programm hat?
Ich habe den Eindruck, dass er Schritt für Schritt Pflöcke setzt. Inzwischen ergibt das eine Linie, für die ich dankbar bin. Natürlich ist da Luft nach oben, aber es geht voran. Dafür bin ich ihm sehr dankbar.
Kann es sein, dass er diese Linie selbst nicht so genau kannte? Vor zweieinhalb Jahren haben er und seine damalige Glaubenskongregation diese Art von Segnungen noch anders bewertet, gleichzeitig gibt es von ihm – aus katholischer Sicht – bahnbrechende Sätze zu Homosexuellen, wie "Wer bin ich zu richten" und "Die Christen sollten dafür um Vergebung bitten, dass sie viele falsche Entscheidungen begleitet haben". Kann es sein, dass er diese Linie selbst nicht so genau kannte?
Papst Franziskus ist kein Theologieprofessor gewesen wie manche seiner Vorgänger. Seine Denkart ist anders. Er klärt nicht jedes Detail vorab, und dennoch kommt man mit seinen Impulsen voran. Bedenken Sie, er ist gerade 87 geworden. Seine Vorstöße zeugen von großer Frische.
Die Erzbischöfe Koch und Schönborn haben bereits queere Menschen um Vergebung gebeten. Wann entschuldigt sich die Katholische Kirche bei den Homosexuellen für die lange Ausgrenzung und Verdammung?
Mit solchen Gesten sollte man sensibel umgehen, schauen, wo und wie sie passen. Es gibt Menschen, die das gut können, der Papst wäre dafür sicher prädestiniert.
Papst Franziskus hat schon viele spektakuläre Ideen gewagt, unter anderem hat er das Frauenpriestertum für die Zukunft nicht ausgeschlossen. Wenn das möglich ist, kommt vielleicht auch eines Tages die vollwertige Ehe für gleichgeschlechtliche und wiederverheiratete Paare?
Also – das sind sehr unterschiedliche Themen, die Sie da ansprechen… Die christliche Ehe ist stark mit dem Ziel der Nachkommenschaft verbunden, ich sehe nicht, dass sich das in absehbarer Zeit ändern könnte. Das Priestertum der Frau ist eine völlig andere Frage, beides kann aber auf keinen Fall durch eine Erklärung des Dikasteriums für die Glaubenslehre geändert werden. Wir sind auf dem Weg der Synodalität und müssen darauf achten, dass wir als Katholiken alle beieinanderbleiben. Dass die Themen im Raum stehen, hat die Bischofssynode in Rom gezeigt. Ich bin gespannt, welche weiteren Impulse 2024 von ihr ausgehen.
Können Sie uns Nicht-Theologen erklären, was so dramatisch gegen die Ehe gleichgeschlechtlicher Paare spricht?
Wir haben den Begriff der Ehe, der klar definiert ist. Es ist ein Sakrament zwischen einem Mann und einer Frau, das neben der lebenslangen Treue stark mit der Ausrichtung auf Nachkommenschaft verbunden ist. Wer das ändern wollte, muss einen ganz neuen Ehebegriff erfinden. Das sehe ich nicht.
Die evangelische, die altkatholische, und große Teile der anglikanischen Kirche sehen darin kein Problem. Sind die alle einer Irrlehre anheimgefallen?
Ich muss nicht beurteilen, was protestantische Kirchen tun. Wir Katholiken haben eine bestimmte Auffassung von Sakramenten. Diese stützt sich auf die Heilige Schrift und die Überlieferung. Es zu ändern wäre ein Gewaltakt.
Pfarrer Bernd Mönkebüscher, einer der Initiatoren von "OutInChurch", in der sich homosexuelle Geistliche zur ihrer Neigung bekannten, sagte folgenden Satz: "Die Frage, wie Jesus das alles sehen könnte, ist wesentlich. Bin ich als queere Person wirklich bloß eine Panne, die dem lieben Gott unterlaufen ist?" Was antworten Sie ihm?
Ich kann die Meinung gut nachvollziehen. Jeder Mensch hat seine Würde, die von seiner geschlechtlichen Orientierung und Identität nicht eingeschränkt sein darf. Das ist mir wichtig. Und das finde ich in diesem Dokument gut ausformuliert. Niemand ist eine Panne, das vermittelt Papst Franziskus sehr deutlich.
Exzellenz, vielen Dank für das Gespräch.
Ich wünsche Ihnen gesegnete Weihnachten!