Diese Kolumne schreibe ich im stern, in dem am 6. Juni 1971 insgesamt 374 Frauen Gesicht zeigten und sagten: "Wir haben abgetrieben!" Berühmte Frauen wie Romy Schneider, Senta Berger und Veruschka bekannten sich öffentlich, um so eine Debatte voranzubringen, die etwas Grundsätzliches in die Köpfe der Menschen bringen sollte: Niemand anders hat über den Körper einer Frau zu bestimmen als die Frau, der dieser Körper gehört. Der Paragraf 218, der Abtreibungen kriminalisierte, musste weg!
218 war nie ganz weg
53 Jahre später wird diese Diskussion neu entfacht, denn der Paragraf wurde nie ganz abgeschafft, als habe man ihn in der Hinterhand gebraucht, um die Frau nicht ganz von der Leine zu lassen. Frauen, die sich 2024 für eine Abtreibung entscheiden, werden nach wie vor kriminalisiert. Man gewährt ihnen rechtlich zwar den Eingriff unter bestimmten Bedingungen; zum Beispiel ist eine Beratung erforderlich. Selbstbestimmt darf eine Frau jedoch nach wie vor nicht sein.

Jagoda Marinić schreibt in ihrer Kolumne über in die Welt, wie sie ihr gefällt – oder auch nicht gefällt. Sie ist Autorin verschiedener Bücher (zuletzt "Made in Germany. Was ist deutsch in Deutschland?", "Sheroes. Neue Held*innen braucht das Land") und Host des Podcasts "Freiheit Deluxe". Als Moderatorin der Literatursendung "Das Buch meines Lebens" (Arte), fragt sie bekannte Persönlichkeiten, wie das Lesen ihr Leben verändert hat. Auf Twitter und bei Instagram findet man sie unter @jagodamarinic.
Eine von der Bundesregierung eingesetzte Kommission empfiehlt nun die Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen in den ersten zwölf Wochen der Schwangerschaft. Was sich seitdem abspielt, ist ein Trauerspiel, das zeigt, wie viel deutsche Konservative von Trumpistan lernen und wie sehr Frauenrechte auch hier als politischer Spielball missbraucht werden. Wir Frauen haben in Deutschland noch nicht die Oberhand gewonnen über unsere Körper, und wenn wir das Recht jetzt nicht einfordern, wird es nur noch schlechter.
Unsere Nachbarn erlauben die Abtreibung
Frankreich zeigt, dass es geht. Dort wurde soeben von beiden Kammern des Parlaments die "Freiheit zum Schwangerschaftsabbruch" in die Verfassung geschrieben. Bei uns jedoch wartet man zu dem Thema auf die Positionen der Kirchen, von denen die katholische bekanntlich nur Männer in geistlichen Führungspositionen zulässt. Einer Organisation also, die in Sachen Frauenrechte null Glaubwürdigkeit besitzt, da sie in ihren Strukturen trotz der grundgesetzlich garantierten Gleichheit von Mann und Frau an der Ungleichheit festhält. Man wünscht sich in solchen Fällen, dass die Kirche sich endlich erneuere – oder ihr die weiblichen Mitglieder endgültig davonliefen.
Wirklich ernst wird es jedoch, wenn Politikerinnen und Politiker vermeintlich betroffen meinen, man solle das Thema bloß nicht anrühren, da unsere Gesellschaft ohnehin schon gespalten sei. Die Gesetzeslage sei im Moment doch gut für die Frauen, sagte Dorothee Bär, CDU, in einem Interview, hochbesorgt, die Regierung beschwöre ein Thema herauf, das die Menschen beunruhigt. Wir können ab jetzt ja im Valiumland leben, einer Demokratie ohne Diskussionen und ohne Aufregung.
Frauen werden weiter belastet
Mich beunruhigen andere Dinge, etwa, dass eine Frau in einer emotional ohnehin belastenden Situation weiterhin kriminalisiert wird. Es beunruhigt mich zu sehen, dass unser Nachbarland Frankreich trotz der Gefahr des Rechtsrucks in der Lage ist, eine frauenfreundliche Politik zu machen, während in Deutschland umgehend die rhetorischen Totschlagargumente im Raum stehen wie in den USA. In solchen Momenten wird mir klar, dass wir in Deutschland keine eigene demokratische Tradition haben wie die Franzosen. Der Kampf um Freiheitsrechte ist hier nicht eingeübt in dieser Form. Umso mutiger waren die Frauen damals im stern, und umso wichtiger ist es jetzt, diese Debatte nicht zu meiden, sie nicht auszusitzen, damit nicht irgendwelche Kräfte geweckt werden. Diese Kräfte sind ohnehin nicht kampflos wegzubekommen.

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Frauenrechte spiegeln die Gesellschaft
Frauenrechte sind ein Gradmesser für den Umgang mit Freiheitsrechten in einer Gesellschaft. In autoritären Staaten ist die Kontrolle über die Frau und ihren Körper oft der erste Schritt, mit dem das Regime seinen totalitären Anspruch in der Bevölkerung verbreitet. Man muss nur schauen, wie es früher in Polen und Ungarn zuging, oder sich alte Bilder von Afghanistan ansehen, um zu erkennen, wie frei die Frauen einmal waren. Wer die Bilder mit heute vergleicht, versteht, welche Kämpfe um Dominanz über Frauen ausgefochten werden.
Ich denke oft an Margaret Atwoods Buch, das als Serie verfilmt wurde, "The Handmaid’s Tale – Der Report der Magd". Ich konnte die Serie nach sechs Folgen nicht weiter ansehen, weil es körperlich wehtat, wie in dieser Dystopie so klar und widerlich gezeigt wird, was geschieht, wenn dysfunktionale Gesellschaften die Kontrolle über die Frau und ihren Körper exerzieren. Es ist eine Gesellschaft, in der nur noch wenige Frauen gebärfähig sind, und diese werden zum Allgemeingut. Sie werden zum Besamungs-Sex für Nachwuchs gezwungen; die unfruchtbaren Ehefrauen helfen ihren Männern beim Geschlechtsverkehr. Durch diese Geschichte können wir erkennen, wie Kontrolle über den weiblichen Körper ausgeübt wird. Man müsste dieses Buch jetzt verschenken und in jedes Hotelzimmer legen, neben die Bibel.
Der Schutz des Lebens habe Vorrang, sagen viele, die sich gegen das Recht auf Abtreibung einsetzen. Das ist ein schwerwiegendes Argument, es geht um die Abwägung zweier wichtiger Güter. Der Selbstbestimmung der Frau über das, was in ihrem und mit ihrem Körper geschieht, wird der Schutz des Lebens gegenübergestellt. Fragt man dieselben Leute hingegen nach dem Schutz des Lebens von Flüchtenden im Mittelmeer, plädieren die meisten von ihnen jedoch nicht mit ähnlicher Leidenschaft für diesen Schutz.
Wenn Männer Kinder bekämen, gäbe es die Abtreibungspille für fünf Euro an jeder Tankstelle, heißt es in einem feministischen Wutwitz. Eine italienische Abgeordnete hielt jüngst eine Rede, die weltweit viral ging, weil sie als Parlamentarierin öffentlich Solidarität mit jeder Frau äußerte, die abtreiben muss oder will. Die Sätze richteten sich an jede Frau, die gerade mit ihren Ängsten zum Arzt geht. Manche würden sagen: Die italienische Abgeordnete hat mit ihrem emotionalen Ausbruch die Kontrolle verloren. Ich sage: Sie hat die Kontrolle über ihre Gefühle wiedergewonnen. Sie hat die Kraft gefunden, öffentlich zu zeigen, was sie fühlt, die Kraft, uns zu erklären, dass sie als Frau anderen Frauen nicht vorschreiben möchte, was sie tun dürfen und was nicht.
Deutschland diskutiert, andere Länder sind weiter – ein Überblick über das Abtreibungsrecht

Mein Körper gehört mir, das klingt banal. Es ist jedoch ein Satz des Widerstands in einer Gesellschaft, die den weiblichen Körper von allen Seiten fremdbestimmt. Die Kosmetikindustrie lebt davon, dass Frauen denken, sie brauchten zig Mittel, um ein Gesicht oder einen Körper zu haben, der ansehnlich ist. Die Gazetten leben von Frauen, die abnehmen, von Frauen, die zunehmen, von Frauen, die alt werden oder gar krank wie jetzt Kate Middleton. Frauen sollen aber zweierlei nicht haben: ihre Ruhe und das Gefühl, dass sie ihr Leben von sich aus denken können. Sobald sie schwanger werden und sich ein Bauch zeigt, meinen alle, ihn anfassen zu dürfen. Der Bauch erscheint als Brutkasten des Nachwuchses für Familie und Gesellschaft. Eine Frau kann nicht hochschwanger sein und ihren Beruf normal weiter ausüben. Jeder wird sich einmischen, ob sie zu viel oder zu wenig arbeite, so als Brutkasten.
Frauen müssen einfach Frau sein dürfen
Fällt den Menschen auf, wie sehr sie Frauen verzwecken, sobald sie Mütter werden? Eine Frau kann nicht schwanger sein und so leben, als wisse keiner, dass sie ein Kind bekommt. Männer können das durchaus. Überhaupt darf jeder sich in ihre Lebensführung einmischen, mehr noch als zuvor. Die Schwangerschaft ist einer der größten Einschnitte im weiblichen Körper. Dieser Körper kann Leben geben, er muss es aber nicht. Niemand anders darf darüber entscheiden als die Frau selbst. Unsere Körper sind keine Leihkörper, über die eine Gesellschaft sich beratend beugen kann.
53 Jahre nachdem Frauen in Deutschland gefordert haben, den Paragraf 218 abzuschaffen, ist es Zeit, den Kompromiss zu beenden. Frauen müssen mit niemandem Kompromisse über ihren Körper schließen. Sobald wir Frauen das selbst verstehen, können wir es auch durchsetzen.