Jagoda Marinić Fahrrad statt Auto: die Hände zum Himmel

Wer sein Rad liebt, der fährt am lebsten freihändig wie unsere kolumnistin
Wer sein Rad liebt, der fährt am lebsten freihändig wie unsere kolumnistin
© getty images
Einst galt das Auto als Statussymbol, mit dem man über sich Auskunft gab. Vorbei. Heute machen Fahrräder Leute.

Die Zeit der Autos ist vorbei. Autos verbrauchen zu viel Sprit, machen uns abhängig von Putin, parken falsch, hupen laut, stehen im Weg. Ich lebe in einer Stadt, in der man kein Auto braucht, außerdem liebe ich Fahrräder. Das tun mehr Menschen, als man denkt. Als ich für diese Kolumne auf Twitter fragte, was meinen Followern ihr Fahrrad bedeutet, war unter den vielen Liebesbeweisen auch das Foto eines Fahrrads in einem Menschenbett. Liebevoll zugedeckt.

Ein Fahrrad muss freihändig die Welt erobern können

Ganz so heftig ist es bei mir nicht, aber als Tochter einer Arbeiterfamilie, in der die Geschenke eher klein ausfielen, war ein Fahrrad natürlich das Größte. Ich habe es vergöttert wie die reicheren Mädchen ihr Pferd. Auf diesem ersten Fahrrad konnte ich kilometerlang freihändig fahren, und seither gibt es beim Kauf eines Fahrrads nichts Wichtigeres als die Frage: Kann es freihändig fahren? Das mag seltsam klingen, aber es entscheidet eben nicht die Sportlichkeit der Fahrerin darüber, sondern die Anatomie des Rades. Sattel und Lenker müssen in einem speziellen Verhältnis zueinander stehen. All meine Fahrräder fuhr ich, wo immer es nur ging, freihändig, zumindest bis ich sah, wie in der US-Version des Films „Himmel über Berlin“ („Stadt der Engel“) Meg Ryan auch freihändig fährt und dabei überfahren wird. Sie hatte beim Fahren allerdings auch die Augen geschlossen, das habe ich nie.

Klarheit schafft nur eine Testfahrt

Vergangene Woche wollte ich ein kürzlich gekauftes Rad umtauschen, weil ich damit in den Straßenbahngleisen hängen geblieben war und es mich seither an den Sturz erinnerte. Im Laden verliebte ich mich sofort in ein Hollandrad. Leute auf Hollandrädern habe ich immer beneidet. „Alle Frauen lieben dieses Rad!“, rief der Händler, doch bei der Probefahrt fühlte es sich an wie eine Harley-Davidson für Arme. „Danke, ist schön, man kann damit aber nicht um die Ecke schießen.“ Beim Ehrgeiz gepackt, schob der Händler ein feingliedriges Rennrad herbei, eines dieser Dinger, die man sich beim Treppensteigen über die Schulter hängen kann wie eine Tasche. Als ich mit dem Rennrad testweise um den Block fuhr, musste ich mich fast übergeben. Wieso bitte hing der Lenker so weit unten? Nichts war es da mit der Freihändigkeit! Ich kaufte nichts, ging nach Hause und holte mein ältestes Rad aus dem Keller, ein sportliches Modell der Marke Hercules. Nicht sonderlich hübsch, dafür fast unbegrenzt freihändig fahrbar. Hercules hatte ich schon im Studium neben mir hergeschoben, so zweisam, dass mein Lieblingsdönerverkäufer irgendwann meinte, das Rad und ich seien wie der Heilige Antonius und seine Lilie. Das ist dieser Heilige, der links die weiße Blume hält und rechts das Jesuskind.

Der Drahtesel wächst mit dem Fahrer

Für ein Kind ist das Fahrrad oft die erste Freiheit, raus aus den Straßen, in denen man jeden und alles kennt. Fast alle, mit denen ich gesprochen habe, wissen noch, wer ihnen die Stützräder abgenommen hat. Es gibt heute Leute, die stellen ihre teuren Räder nicht vor der Tür ab, sondern tragen sie ins Büro oder in die Wohnung. Es gibt das große E-Bike-Glück der Senioren, die einen stolz überholen, als könnten sie etwas dafür. Bei den ersten Alten auf der Überholspur dachte ich noch: Wann komme ich endlich in Rente, um wieder Zeit zu haben, so fit zu sein? Bis ich kapierte: Hochstapler! Unerträglich finde ich die offensiv behelmten Ewigeiligen, die sogar bei Moskitos auf der Strecke schreien: Faahr-raaad-weeg! In den coolen Coffeeshops hängen hippe Räder jetzt an der Wand, wie Gemälde. Peinlich, dachte ich erst. Inzwischen mag ich es.

Jagoda Marinić
© Gaby Gerster

Jagoda Marinić

Die Schriftstellerin und Politologin Jagoda Marinić („Made in Germany. Was ist deutsch in Deutschland?“, „Sheroes. Neue Held*innen braucht das Land“) schreibt alle zwei Wochen – im Wechsel mit Micky Beisenherz – im stern.

Ich glaube, das Fahrrad wird viel zu selten laut genug geliebt, gemessen daran jedenfalls, was es uns bedeutet. Bei meiner Twitterumfrage schrieb einer sogar, er werde sich ein Rennrad kaufen, um in den Widerstand gegen Putin zu gehen – durch Spritsparen!