Marx ist tot. Das ist so ein Satz, den es geben müsste, wie etwa "Gott ist tot" von Nietzsche. Dabei ist Marx viel toter als Gott. Ich kenne jedenfalls keinen Denker mehr, der heute glaubwürdig und wie ein Popstar den Kapitalismus kritisiert. Kein Gesicht und Name, der den Wahnsinn, in dem wir leben, so auf den Punkt bringen könnte, dass man Poster à la Che Guevara aus ihm machen könnte.
Keine Idee mehr ohne Ikone?
Wir leben in Zeiten, in denen ohne Kult nichts mehr verstanden wird. Es braucht Ikonen für die tiefgreifenden Ideen, sonst denken alle noch ernsthaft, der Film über Barbie könnte Kapitalismuskritik sein. Ganz gleich, wie falsch oder richtig die kommunistische Utopie ist, eine Art Marx 2.0 fehlt uns dringend, denn die meisten Menschen erkennen die Gegner des friedlichen Zusammenlebens nicht einmal mehr.

Jagoda Marinić schreibt in ihrer Kolumne über in die Welt, wie sie ihr gefällt – oder auch nicht gefällt. Sie ist Autorin verschiedener Bücher (zuletzt "Made in Germany. Was ist deutsch in Deutschland?", "Sheroes. Neue Held*innen braucht das Land") und Host des Podcasts "Freiheit Deluxe". Als Moderatorin der Literatursendung "Das Buch meines Lebens" (Arte), fragt sie bekannte Persönlichkeiten, wie das Lesen ihr Leben verändert hat. Auf Twitter und bei Instagram findet man sie unter @jagodamarinic.
Ich erlebe das jeden Sommer in den Ländern des ehemaligen Jugoslawien, wo der Turbokapitalismus wütet und wo sich Wirtschaftswachstum im Zeitraffer beobachten lässt. Kaum 25 Jahre brauchte es, und man erkennt ein Land nur noch an seiner Landschaft. Kulturell ist es, als hätte jemand auf "Reset" gedrückt und die Menschen neu programmiert. Alle ticken wie überall sonst auch, wollen in der Freizeit nur einkaufen und angeben. Früher waren das Sturköpfe mit Esprit. Als etwa McDonald's seine ersten Filialen öffnete, fanden die Kinder das Essen dort eklig, weil sie noch einen Geschmackssinn hatten, und die Eltern spotteten, wie teuer schlechtes Fleisch und Kartoffeln sein können. Die Familien hatten damals Zeit zu kochen, doch 20 Jahre später haben sie nun Fast Food an jeder zweiten Ecke – und an den anderen Ecken ein Yogazentrum, um in der Zeit, in der sie nicht mehr kochen, zu sich selbst zu kommen.
Der Kapitalismus ändert das ehemalige Jugoslawien
Ich erlebe einen Ausverkauf der Küste. Einen Raubtierkapitalismus, der in nur zwei Jahrzehnten Inseln verhökert hat, die jahrhundertelang unberührt lagen. Mir egal, wenn das jemand Jugo-Nostalgie schimpft – aber wenn Jugendliche sich im Uber-Taxi zum Strand fahren lassen, um dort stinkende Luxusliegen zu mieten, die andere vor ihnen vollgeschwitzt haben, bricht bei mir der Welthass aus. Abends sitze ich an den Häfen der schönsten Inseln, doch wenn die Sonne untergeht, stellen sich vor die blau-weißen Holzboote der Fischer dicke weiße Yachten. Und statt das Lilarosablassblau aus Sonne und Meer bewundern zu können, muss ich mir ansehen, wie irgendwelche Macker mit ihrem modernen Harem an der Riva ihr Leben spielen, Hauptsache, jemand sieht zu. Wollten Reiche nicht mal in Gated Communitys? Bitte!
In den Morgenstunden dann wieder die alten Fischerboote, die wohl noch bezahlbare Ankerplätze aus alten Zeiten haben, ihre fast unwirkliche Eleganz der Bescheidenheit. Ja, es gab eine Zeit, in der nicht alle das Dickste und Größte haben wollen, ein Meergang und drei Fische für die Familie – reicht.
Nach dem Krieg kommen die Investoren
Die Mittelmeerküste geht an Investoren, bald ist Kroatien so zugebaut, wie manche Teile Spaniens es sind. Früher war der Mord an Landschaften gesetzlich verboten, damals war der Boden für Einheimische noch bezahlbar. Kapitalanleger in Kroatien werden immer reicher, der Mindestlohn steigt hingegen kaum. Ein typischer Witz der Küstenfatalisten in diesem Nachkriegsland geht so: Der Tourist ist der Gegner, dem man das Land nicht nur kampflos servierte, man gab ihm sogar noch Essen dazu. "Viva la revolución!" findet man höchstens auf T-Shirts, schweineteuer natürlich.