Japan vier Wochen nach der Katastrophe Ein Gespenst namens Tokio

Von Mareike Dornhege, Tokio
Tokio vor dem großen Beben: Laut, bunt, quirlig, exzessiv. Tokio heute: Dunkel, bedächtig, ständig schwankend. Streifzug durch eine Stadt, die weit entfernt ist von Normalität.

Es will einfach kein Ende nehmen. Am Donnerstagabend wackelten die Häuser in Tokio wieder. Die Menschen gewöhnen sich an den dauerhaft erscheinenden Zustand, dass sich der Boden unter ihren Füssen bewegt. "Als ich vor ein paar Tagen in Deutschland ankam, bildete ich mir noch immer ein, der Boden bebe, wenn ich einmal ganz ruhig an meinem Schreibtisch saß” sagt ein deutscher Japanologe, der für ein paar Tage in seine Heimat zurückgekehrt ist. Fast wie ein Seemann, der - einmal von Schiff gegangen - "landkrank" wird.

Doch es sind nicht nur die ständigen Nachbeben, die Tokio fortwährend daran erinnern, dass es noch lange nicht wieder so ist wie vorher. Nachts geht man nun durch eine dunkle Stadt. Gespenstisch, unheimlich. "Bukimi" nennen es die Japaner. Wo einem sonst an jeder Häuserwand die Neonschilder in allen Farben entgegenleuchteten, ist es heute sehr dunkel. Es wird überall an Beleuchtung gespart: In den meisten Straßenzügen brennt nur jede zweite Laterne. Moderne Hochhäuser, die sonst hellerleuchtete Blickpunkte der Stadt bildeten, bleiben dunkel.

Erloschenes Wahrzeichen

Selbst das Wahrzeichen der Stadt, der Tokio Tower, ist erloschen. Bot er einem sonst doch ein Farbenspiel von Gold bis Pink, sobald es dämmerte. Doch nicht nur am Licht wird gespart. Die Tokioter müssen dieser Tage etwas mehr Power in den Beinen haben. In den U-Bahn-Stationen sind fast alle Rolltreppen, die nach unten fuhren, abgeschaltet, und oft auch die, die die Millionen sonst bequem nach oben befördern. Zudem verkehren die Züge nach wie vor nach eingeschränkten Fahrplänen. Und mit dem Shopping nach der Arbeit müssen sich die konsumfreudigen Japaner auch beeilen. Große Kaufhäuser wie das berühmte Isetan haben normalerweise bis 21 Uhr geöffnet, schließen nun aber zwei Stunden früher. Auch das spart Strom.

Auch das ausschweifende Nachtleben ist in diesen Tagen von einer anderen Aura geprägt. "Tokio hat einige der besten Clubs Asiens, wir erwarten jedes Wochenende Top DJs aus der ganzen Welt. Doch im Moment müssen fast alle Parties gecancelt werden. Wir haben jetzt mit Charity Events angefangen, vielleicht motiviert das die Leute, wieder auszugehen", berichtet der kanadische DJ und Partyveranstalter Nick Cleeve, der seit Jahren in Tokio lebt.

Schluss mit lustig

Das Leben in Tokio ist nicht mehr so bequem, bunt und exzessiv wie vorher. Dass das vorerst so bleiben wird, haben die meisten begriffen. Viele Japaner und Ausländer stellen nun Hilfsprojekte auf die Beine oder wollen denen, die es noch viel schwerer getroffen hat, als Freiwillige helfen. Anfang Mai wird "Goldene Woche" gefeiert. Es ist eine Woche voller Feiertage. Normalerweise ist es eine Woche voller Urlaub und Party. Und diesmal? "Für mich geht es Richtung Nordjapan, ich will beim Wiederaufbau helfen. Einige meiner Freunde sind jetzt schon dort", berichtet der japanische Designer Marek Okon. Kein Einzelfall. Von vielen hört man ähnliches: In Tokio lebende Ausländer sammeln Geld zu Hause für Japan, es werden Charityveranstaltungen abgehalten und Hilfsgüter gesammelt. Nach vier Wochen sind die Hamsterkäufe vorbei - alles ist frei verfügbar und kann nun über die nach Norden wieder freien Straßen- und Zugstrecken dorthin transportiert werden, wo es am meisten gebraucht wird.

Und die Strahlung? Darüber macht sich in Tokio kaum jemand Gedanken. Seit der Meldung, dass die normale Hintergrundstrahlung in Hongkong oder New York höher ist als die momentane in Tokio, haben sich auch nervöse Ausländer wieder beruhigt. "Worüber ich mich nun am meisten sorge, ist die japanische Wirtschaft", sagt eine amerikanische Studentin. Doch die Japaner stellen sich ihrem Schicksal stolz entgegen. Wer den Fernseher einschaltet, bekommt in den Werbepausen nun statt Reklame hauptsächlich mutmachende Propaganda zu sehen. Große japanische Firmen drehten Sonderspots als Reaktion auf die Katastrophe ab und die beliebtesten japanischen Prominenten sprechen dem Volk Mut und Stärke zu. Die Kernaussage ist typisch japanisch: "Wir müssen stark sein, aber wir können es schaffen, wenn wir nun alle gemeinsam an einem Strang ziehen."