Manchmal genügt schon ein Blick in die Satzung. In die vereinseigene, wohlgemerkt. "Nur unbescholtene Personen" könnten aufgenommen werden, heißt es darin nämlich beim FC Bayern München, und dass jedem Mitglied "in seinem Verhalten zum Club und dessen Mitgliedern Ehre und Ansehen des Clubs oberstes Gebot" sein müsse, andernfalls drohe ein Ausschluss "bei unehrenhaftem Verhalten innerhalb oder außerhalb des Clubs".
Jérôme Boateng ist in zwei Verfahren wegen Körperverletzung schuldig gesprochen, das Urteil im September dann aber wegen Verfahrensfehlern wieder aufgehoben worden. Bald wird neu verhandelt. Trotzdem hatte sich das Landgericht München bei seinem jüngsten Richtspruch "vollkommen überzeugt" gezeigt, dass Boateng seine Ex-Freundin, die Mutter seiner beiden Kinder, während eines Urlaubs 2018 geboxt, geschlagen, bespuckt und beleidigt habe. Im Prozess stand nicht nur Aussage gegen Aussage. Es gab Tatzeugen, medizinische Gutachten, Fotos.
Eine andere Ex-Freundin, die dereinst Gewaltvorwürfe gegen ihn erhoben hatte, ließ dieser Boateng Verschwiegenheitsverpflichtungen unterzeichnen, nur um hernach in einem "Bild"-Interview über sie herzuziehen. Katarzyna Lenhardt, genannt Kasia, wurde von des Fußballers Unterstützern und Fangemeinde in den sozialen Netzwerken geshitstormt. Am 9. Februar 2021 nahm sie sich das Leben.
Ist dieser Jérôme Boateng also unbescholten?
Es geht um das Selbstverständnis des Vereins
Die Frage treibt einige um, die es mit den Münchenern halten, seit der Weltmeister wieder an der Säbener Straße mittrainiert. Am morgigen Freitag, spätestens gegen Ende der Woche dürften die Bosse in Absprache mit Trainer Thomas Tuchel über den Verbleib des vereinslosen 35-Jährigen befinden, in der dazugehörigen Debatte aber drückt sich jetzt schon viel mehr aus als nur die schludrige Transferpolitik eines Sommers, in dem man viele Verteidiger abgab, aber ausreichend neue zu holen vergaß. Nein, es geht bei der Causa Boateng um die Seele des Vereins, um das Selbstverständnis, es geht um den moralischen Kompass.
Das wissen die Verantwortlichen durchaus, anders lassen sich die passiv-aggressiven Statements der vergangenen Tage nicht deuten. Aber je kleiner sie die Sache zu reden versuchen, desto größer wird sie.
Es fing an mit Sportdirektor Christoph Freund, der, zu Boatengs Gerichtsverfahren befragt, erklärte: "Gegen die Privatperson gibt es ein Verfahren. Das ist aktuell ausgesetzt, darum ist es seine private Geschichte." Freund schob eilig nach, Boateng sei ein angenehmer Mann, der auch gut in der Mannschaft angekommen sei.

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Rückzug hinter einen juristischen Terminus
Auf der Pressekonferenz vor dem Champions-League-Spiel beim beim FC Kopenhagen konnte man dann der offiziellen Verteidigungslinie quasi live beim Entstehen zusehen, was in der Form auch nicht alle Tage vorkommt. Da saß also Joshua Kimmich und stammelte, er wisse ja gar nicht genau, wie der Stand sei in der juristischen Auseinandersetzung Boatengs, ehe ihm rechts von der Seite sein Pressesprecher energisch soufflierte: "Unschuldsvermutung, Joshua! Unschuldsvermutung!"
Die scharfgeschalteten Mikrofone übertrugen netterweise auch diese Betriebsanweisung, und Trainer Tuchel unterstrich kurz darauf in tuchelhaftester Rhetorik: "Unschuldsvermutung gilt, wenn die Unschuldsvermutung gilt. Das können wir drehen und wenden, wie wir wollen." Wie man es bei den Bayern wenden will, daran besteht seither kein Zweifel mehr. Man zieht sich geschlossen hinter einen juristischen Terminus zurück, der als Totschlagargument zur Beendigung unangenehmer Diskussionen Karriere gemacht hat.
Das mag als Regung legitim sein, moralisch ist es beschämend, zumal für den größten, den erfolgreichsten, den mitgliederstärksten Verein des Landes, dem Millionen Menschen auch weltweit folgen. Aber die Heuchelei ist die Verbeugung des Lasters vor der Tugend, so sagt man. Kein Wort der Verantwortlichen jedenfalls dazu, dass man sich das Verfahren genau anschauen werde, dass man die Sache ernst nehme, oder dass man natürlich für die Sache der Frauen einstehe.
Kein Wort für die betroffenen Frauen, keine Empathie
Dabei hatte der Verein erst im August im Schulterschluss mit seinen Fans und dem Fanprojekt München ein Awareness-Konzept für das Stadion präsentiert, "Obacht" soll es heißen und, Zitat aus der Präsentation, "alle Mitglieder, Fans und Mitarbeitenden des FC Bayern dabei unterstützen, hinzusehen und hinzuhören, aufzustehen, zu helfen und füreinander einzustehen. Respekt und Toleranz sind wichtige Werte des Sports, die wir fördern und für die wir uns als FC Bayern immer und überall einsetzen."
Die kalte, glatte Lust, mit der man sich jetzt hinter die Unschuldsvermutung zurückzieht, mag dazu so gar nicht passen. Sie passt gleichwohl zum Gebaren vergangener Jahre, als die Moral immer dann zurückzustehen hatte, wo sie unmittelbar den sportlichen Erfolg zu gefährden drohte. Man erinnere nur, wie sich im Jahre 2010 Franck Ribéry vor Gericht verantworten musste, weil er bewiesenermaßen Sex mit einer minderjährigen Prostituierten gehabt hatte. Ribéry war fußballerisch auf der Höhe seiner Kunst, ein filigraner Dribbler und unverzichtbar für alle Titeljagden, folglich lautete die Schutzbehauptung aus München, das Ganze sei eine Privatsache des Spielers. Später raunte CEO Rummenigge noch: "Ich glaube, das ist eine politisch motivierte Geschichte wegen des schlechten Abschneidens der französischen Nationalmannschaft bei der WM."
Als sich wiederum Lucas Hernández, der teure Königstransfer für die Defensive, 2021 in Spanien verteidigen musste und sogar eine Haftstrafe wahrscheinlich schien, weil er gegen ein Kontakt- und Annäherungsverbot gegenüber seiner damaligen Freundin verstoßen hatte, ein Verbot, das im Übrigen wegen häuslicher Gewalt überhaupt erst verhängt worden war, da erklärte Präsident Herbert Hainer gerne: "Das sind zunächst mal private Dinge, die ich nicht bewerten will." Wieder keine Einlassungen des Bedauerns, keine Empathie für die betroffenen Frauen, keinerlei Unterstützung, außer für die eigenen Leistungsträger, die man nicht missen wollte in der Liga und im internationalen Wettbewerb. Müßig zu erwähnen, dass der schon erwähnte Rummenigge dem küssenden Rubiales umso schneller beisprang: "Wenn man Weltmeister wird, ist man emotional. Und was er da gemacht hat, ist – sorry, mit Verlaub – absolut okay."
Mia san mia – aber was bedeutet das eigentlich noch?
Es ist, als habe dieser Verein – nicht erst jetzt, vor Monaten schon, vielleicht vor Jahren – erkannt, dass man allein mit Mia san mia und bayrischer Gemütlichkeit keine großen Titel mehr holt. Bisweilen nicht mal mehr kleine. Und dass man es sich deshalb nicht erlauben kann, moralischer sein zu wollen als die neureichen Big Player aus Newcastle, Paris und Manchester, aus Saudi-Arabien und Mailand. Die völlig überhastete Entlassung von Julian Nagelsmann, die unwürdigen Freistellungen von Kahn und Salihamidzic, das über die Jahre kritisierte, aber allzu lukrative Katar-Sponsoring – all dies verdichtet sich zum Eindruck eines Vereins, der in immer kürzeren Halbwertszeiten denkt und jedwede Integrität dem sportlichen Erfolg opfert.
Fraglich bleibt nur, ob die Bosse in Sachen Boateng mit ihrem gereizten Euphemismus durchkommen, denn es gehört zu den Großartigkeiten des FC Bayern, dass er eine zwar erfolgsverwöhnte, aber auch absolut wache, kritische und engagierte Anhängerschaft hat, die Ausschweifungen und Fehltritte anprangert, wo sie welche sieht. Hört man sich unter den Fanclubs der Südtribüne um, so ist zu erfahren, dass für das nächste Heimspiel eine in ihrer Botschaft eindeutige Protestchoreografie geplant sein soll. Vielleicht wird es so wie im Juli diesen Jahres, als Jérôme Boateng bei einem Legendenspiel zum zehnjährigen Jubiläum des Triple-Erfolgs von 2013 das Bayern-Trikot schon einmal überstreifen durfte. Die eigenen Fans hatten den Verteidiger da bei jeder Ballberührung ausgepfiffen.