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Landtaucher in Vanuatu Sie springen in die Tiefe, bis ihr Haar den Boden berührt

Der eher unbekannte Südseestaat Vanuatu hat ein einzigartiges Ritual: Landtauchen. An Lianen befestigt, stürzen sich waghalsige Männer 30 Meter in die Tiefe - ein erstaunlich ungefährliches Spektakel.
Von Christina Czybik, Vanuatu

Sie nennen sich Landtaucher - eine Bezeichnung, die gefahrlos, fast romantisch klingt. Als sich aber der erste Mann kopfüber auf die Erde stürzt, kommen mir nur zwei Begriffe in den Sinn: lebensmüde und verrückt. Doch während ihm Mann für Mann folgt, vermittelt sich der Eindruck von Mut, Rausch und einem klaren Ja zum Leben. Das jedenfalls ist den lachenden Gesichtern der Springer deutlich abzulesen. Überhaupt scheint das Spektakel des Landtauchens eher ein Fest der Fröhlichkeit und des Lebenswillens zu sein. Ich bin mit einem kleinen Air-Taxi auf die Insel Pentecost geflogen. Sie gehört zum eher unbekannten, touristisch kaum erschlossenen Südseestaat Vanuatu, der aus 83 Inseln besteht. 67 von ihnen sind bewohnt - so auch das Eiland Pentecost mit seinen rund 12.000 Einwohnern. Hier sitze ich nun zusammen mit einer Handvoll anderer Besucher auf einem zur Bank umfunktionierten Baumstamm im Busch.

Schwitzend in der Schwüle, die Augen gespannt auf den Holzturm gerichtet, an dem die Land Diver, die Landtaucher, letzte Vorbereitungen für ihre Sprünge treffen. Geschickt messen und verknoten sie die Lianen, deren Länge haargenau stimmen muss. Millimeterarbeit, von denen Leib und Leben abhängen. Wie beim Bungeejumping hängt die Dicke des Seils vom Gewicht des Springers ab, und jeder von ihnen ist für seine eigene Liane verantwortlich. Grünes Licht für die Tauglichkeit der Gesamtkonstruktion aber gibt am Ende der Clan-Chef.

Jeder ist für seine Liane verantwortlich

Erst seit wenigen Jahren ist es Besuchern erlaubt, an den Feierlichkeiten der Landtaucher teilzuhaben. Umso mehr fühle ich mich geehrt, diesem weltweit einzigartigen Ritual beiwohnen zu dürfen. Ich komme mir sogar ein bisschen mutig vor, mich allein in den Busch gewagt zu haben, wenngleich sich der eigene Mut angesichts der springenden Männer ganz schnell relativiert. Ihr Wille, sich für die Gemeinschaft in Gefahr zu begeben, ist beeindruckend. Ihre Courage, sich der lebensbedrohlichen Herausforderung zu stellen, weckt Bewunderung. Ihr Ansporn, das Abenteuer zum Wohle aller zu überstehen, verdient Respekt und Anerkennung.

SIEH DIE WELT

Der stern veröffentlicht regelmäßig Reportagen von SIEH DIE WELT - dem digitalen Magazin für globale Momentaufnahmen abseits des täglichen Nachrichtenstroms. Subjektiv. Multimedial in Wort, Bild und Ton. Die Autoren von SIEH DIE WELT sind ausgebildete und erfahrene Journalisten. Die beiden Gründer Markus Huth und Oliver Alegiani haben unter anderem für Spiegel Online und die Financial Times Deutschland gearbeitet. Das Magazin finanziert sich durch die Unterstützung seiner Leser.

Lediglich an Lianen befestigt, die die waghalsigen Jungen und Männer um ihre Fesseln tragen, springen sie aus bis zu 30 Metern Höhe der Erde entgegen. Sie feiern damit ihre Männlichkeit, die Kraft ihrer vom täglichen Leben im Busch trainierten Körper und das Testosteron, das sie stark und mutig macht. Zugleich unterstreichen sie damit ihre Zuversicht auf eine gute Ernte, denn der Sage nach soll die Erde durch die Berührung mit ihrem Haar besonders fruchtbar werden. Die Frauen unterstützen das Zeremoniell pfeifend, singend und mit rhythmischem Stampfen, bleiben jedoch dezent im Hintergrund.

Als Europäerin erheitert mich gerade das, denn Naghol oder Gol, wie das Landtauchen im südlichen Teil von Pentecost heißt, wurde vor vielen Jahrhunderten zuallererst von einer Frau ausgeübt. Sie ertrug die Eifersucht ihres Mannes und seine unersättliche Begierde nicht mehr und floh in den Wald. Sie forderte ihn heraus, ihr auf einen der riesigen Banyan Trees zu folgen. Wenn sie beide den Sprung vom Baum überleben würden, so ihre vermeintlich romantische List, dann müssten sie füreinander bestimmt sein und bis in alle Ewigkeit zusammengehören. Ihr Süßholzraspeln verschleierte seinen Blick auf die Lianen, die seine Frau um ihre Knöchel gebunden hatte, und er sprang geradewegs in den Tod.

Die Frauen sprangen aus Solidarität

Viele Jahrzehnte nach diesem Ereignis waren es stets Frauen, die sich wagemutig von den Bäumen stürzten. Sie feierten den Mut ihrer Schwester und sprangen aus Solidarität - vermutlich auch mit Spaß und Lebensfreude - von den Banyan-Bäumen. Doch bei ihren Sprüngen soll laut Überlieferung der Wind unheimlich durch die Bäume gepfiffen haben, so als streife der Geist ihres verstorbenen Ehemannes noch rastlos durch die Wälder. Dieses Zeichen wurde schließlich so ausgelegt, dass das Landtauchen nicht mehr Sache der Frauen sein durfte - es wurde zum puren Männerritual.

Genau diese lassen sich alljährlich in den Monaten Mai und Juni von ein paar schaulustigen Touristen feiern. Winkend und lachend stehen sie auf dem Turm, falten kurz die Hände und richten den Blick in den Himmel, bevor sie sich in die Tiefe stürzen.

Ein Junge springt und wird so zum Mann

Heute springen insgesamt neun Männer, wovon der erste auch der jüngste ist. Vermutlich ist es seine Premiere vor Publikum, ich schätze ihn auf gerade mal zwölf Jahre. Während er auf der untersten Planke steht, sucht er immer wieder nach ermutigenden Blicken und der Aufmunterung seiner Angehörigen. Schüchtern springt er als Junge dem Erdboden entgegen - und steht auf als Mann. Stolz, strahlend vor Freude und beglückwünscht von seiner Familie.

Bei jedem Sprung durchzuckt ein alarmierendes Knacken und Krachen die Dschungel-Hitze. Erschrocken halte ich den Atem an, nur um erleichtert festzustellen, dass es bloß die Lianen waren. Knochen gehen zum Glück nicht zu Bruch. Auch der selbstgebaute Turm hält stand. Und jeder der Landtaucher steht nach seinem Fall mit einem herzerfrischenden Lachen wieder auf.

Mit jedem Sprung werden die Gesänge lauter, und die stampfenden Rhythmen schwellen an, während die Diver immer höhere Planken auf dem Turm erklimmen. Der finale Sprung erfolgt vom schmalen Grat der Turmspitze statt und lässt mich noch ein letztes Mal den Atem anhalten. Der Fall des Divers scheint endlos in die Tiefe zu gehen, obwohl er mit einer Geschwindigkeit von 70 Stundenkilometer auf die Erde zurast. Auch er steht unverletzt da, steht lachend wieder auf und winkt seinem Publikum zu.

Todesfälle beim Ritual

Seit den vielen Jahrzehnten, die die Inselbewohner dieses Spektakel zelebrieren, wissen sie nur von zwei Todesfällen zu berichten. Einer davon ereignete sich im Jahre 1974, als Queen Elizabeth II. die Insel Pentecost besuchte, und geht aufs Konto der Missionare. Sie überredeten die Dorfbewohner, den hohen Besuch auf außergewöhnliche Weise zu unterhalten - mit dem Landtauchen - wenngleich dies zur Regenzeit extrem gefährlich war. Einer der Diver sprang denn auch mit der nassen Liane in den Tod.

Heute ist glücklicherweise nichts dergleichen passiert. Im Gegenteil: Alle Beteiligten übertreffen sich gegenseitig in punkto Partylaune und Lebensfreude. Nach zweieinhalb Stunden ist das Spektakel beendet, und der Dorfälteste bedankt sich für das Interesse an der Kultur der Inselbewohner sowie für die Unterstützung des Dorfes. Und ich, überwältigt von den Eindrücken, muss schnell wieder ins Air Taxi steigen, da das Wetter umzuschlagen droht. Würde ich selber, wenn es mir als Frau überhaupt gestattet würde, den Sprung vom Gol wagen? Nie im Leben! Nicht mal von der niedrigsten Planke! Eher würde ich eine ganze Nacht am Schlund des aktiven Vulkans auf der Nachbarinsel Tanna verbringen.

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