TikTok Von "Tomato Girls" bis "Old Money": Warum Mikrotrends bei der Generation Z so beliebt sind

Junge Frau posiert vor Ringlicht für die Kamera
Von den Haaren übers Make-up und die Klamotten bis hin zu Hobbies und Musikgeschmack: Wie man sich dem jeweiligen Mikrotrend anpasst, zeigen Millionen junge Menschen auf TikTok.
© Westend61 / Imago Images
Modetrends auf TikTok gehen weit über die Kleidung hinaus. Viel mehr beschreiben sie einen kompletten Lifestyle. Obwohl die meisten Trends genauso schnell verschwinden, wie sie gekommen sind, erfreuen sie sich in der Generation Z enormer Beliebtheit.

Die Mode der frühen 2000er ist zurück. Vor allem die Generation Z stellt sich in den sozialen Medien in bunten, schrillen "Y2K"-Outfits zur Schau. Anhänger der "Old Money"-Stilrichtung tragen dagegen zurückhaltende, aber möglichst luxuriösen Kleidung. Die "Tomato Girls" fand man im Sommer mit Rüschenblusen und rotem Lippen im Italien der 1950er-Jahre, während die "Coastal Cowgirls" in Westernstiefeln am kalifornischen Strand tanzten. Wer die "Dark Academia"-Ästhetik trägt, sitzt am liebsten in düsteren Farbtönen in der Bibliothek einer Eliteuniversität. "Cottagecore"-Anhänger hingegen würden ihre Tage am liebsten in Kleidern oder Latzhosen auf einer Blumenwiese oder im heimischen Garten verbringen.

All diese Modetrends, die hauptsächlich auf TikTok gefeiert werden, sind extrem individualisiert, oft gegensätzlich – und sehr kurzlebig. Nahezu wöchentlich tauchen in dem sozialen Netzwerk neue Stilrichtungen auf. Mit dem Zusatz "-core", "-Aesthetic" oder "-Girl" versehen, ergibt sich der passende Hashtag, der innerhalb weniger Tagen Millionen von Klicks sammeln kann. Die entsprechenden Videos zeigen, wie der jeweilige Trend auszusehen hat: Outfits, Modetipps, Schmink-Tutorials, Moodboards mit den passenden Accessoires und – besonders häufig – Zusammenschnitte von Orten, Filmen, Aktivitäten und Musik, die zur Stilrichtung passen sollen. Denn die Trends beschränken sich nicht nur aufs Äußere, sondern wollen ein stimmiges Gesamtbild, einen kompletten Lebensstil darstellen.

An dieser Stelle hat unsere Redaktion Inhalte von TikTok integriert.
Aufgrund Ihrer Datenschutz-Einstellungen wurden diese Inhalte nicht geladen, um Ihre Privatsphäre zu schützen.

"Früher gab es die Gothic-Szene und die Punk-Szene, aber die wenigsten Leute waren Mitglied so einer Szene. Heute ist es normal, mindestens einer Gemeinschaft anzugehören", erläutert Nina Kolleck im Gespräch mit dem stern. Die Professorin für Erziehungs- und Sozialisationstheorien forscht an der Universität Potsdam unter anderem zur Generation Z und sozialen Medien. Heutige Modetrends seien nicht nur vielfältiger, sondern auch differenzierter geworden. TikTok spielt dabei eine wesentliche Rolle: Die Video-Plattform hat "die Landschaft der Trendentwicklung revolutioniert", sagt Stefan Tewes, Trend-Forscher und Direktor des Zukunftsinstituts.

Mikrotrends sind vor allem bei der Generation Z beliebt

"TikTok zeichnet sich durch seine Fähigkeit aus, Trends blitzschnell viral gehen zu lassen", erklärt der Wissenschaftler dem stern. Ein einziges Video kann in nur wenigen Stunden eine komplett neue Stilrichtung verbreiten. Insbesondere wenn Influencer mit großer Anhängerschaft einen Trend aufgreifen, "kann dies seine Popularität exponentiell steigern". Genauso schnell wie bestimmte Bewegungen an Beliebtheit gewinnen, verschwinden sie aber auch wieder von der Bildfläche. Wegen ihrer geringen Haltbarkeit bezeichnet man die auf TikTok verbreiteten Stilrichtungen als Mikrotrends. Dabei handelt es sich um "kurzlebige Strömungen oder Entwicklungen innerhalb eines größeren Trends", erläutert Stefan Tewes. 

Die flüchtigen Strömungen werden vor allem von der Generation Z unterstützt, sagt Nina Kolleck. So ordnen sich junge Menschen anhand der Kleidung, der Inneneinrichtung und des Lebensstils, den sie auf TikTok zeigen, der aktuell umjubelten Ästhetik zu. Stolz stellen sie den jeweiligen Szene-Stil zur Schau und teilen die trendige Selbstinszenierung mit Tausenden Gleichgesinnten auf der ganzen Welt. Der Gemeinschaftsfaktor ist einer der Reize, die die Mikrotrends für die Generation Z so attraktiv macht. Es geht um Selbstfindung, erklärt die Erziehungswissenschaftlerin: Junge Menschen wollen sich ihrer Persönlichkeit bestätigt fühlen ­– ein Gefühl, das vor allem über Zuordnung und Gemeinschaft vermittelt wird. 

Mikrotrends werden Teil der Identität – und ein Zufluchtsort

In einer Lebensphase, die geprägt ist von der Suche nach Zugehörigkeit und dem Wunsch nach Abgrenzung von der älteren Generation, bieten Mikrotrends "jungen Menschen eine Plattform für Selbstausdruck und Identitätsfindung", bestätigt Stefan Tewes. Die kurzlebigen Modetrends eignen sich perfekt um, mit verschiedenen Stilen und Identitäten spielen: Über Plattformen wie TikTok können sowohl Influencer als auch die breite Masse umgehend auf neu entstandene Ästhetiken reagieren "und diese in ihre persönliche Identitätsbildung integrieren", erklärt der Zukunftsforscher. 

Gregor Peter Schmitz mit den Buchstaben GPS

Wollen Sie nichts mehr vom stern verpassen?

Persönlich, kompetent und unterhaltsam: Chefredakteur Gregor Peter Schmitz sendet Ihnen jeden Mittwoch in einem kostenlosen Newsletter die wichtigsten Inhalte aus der stern-Redaktion und ordnet ein, worüber Deutschland spricht. Hier geht es zur Registrierung.

Darüber hinaus können Mikrotrends auch als Reaktion auf gesellschaftliche Veränderungen gesehen werden. Als Stilmittel, um Meinungen und Haltungen zu aktuellen Themen zu signalisieren. Für das junge Publikum stellen Mikrotrends nicht nur eine modische oder kulturelle Strömung dar, "sondern vielmehr ein Mittel zur Selbstfindung und Kommunikation in einer sich ständig wandelnden Welt sind", resümiert der Experte. 

Mikrotrends können aber auch einen Zufluchtsort darstellen, sagt Nina Kolleck: "Die kurzen Videos bieten eine Fluchtmöglichkeit, die sie vor den Herausforderungen des Alltags schützt." Die vielen Krisen – Klimawandel, Corona, Kriege ­– die das Erwachsenwerden der Generation Z begleiten, befeuern eine Sehnsucht nach friedlicheren Zeiten. Kein Wunder, dass Nostalgie und das vermeintlich einfachere Leben (auf dem Land, in den eigenen vier Wänden, im finanziellen Überfluss) sich als wiederkehrende Motive durch nahezu alle Mikrotrends ziehen.

Modeströmungen, die über Schönheitsideale hinausgehen

Welcher Mikrotrend sich zum nächsten Hype entwickelt, kann keiner voraussagen. Gewiss ist nur, dass es nicht lange dauern wird. Der stetige Wechsel von Trends könne zu einem fluiden Verständnis des Selbst führen, sagt Stefan Tewes. Sich an diesen Rhythmus anzupassen, "kann sowohl Vorteile in Form von kognitiver Flexibilität als auch Herausforderungen in Form von Unsicherheiten mit sich bringen", erläutert der Trend-Forscher. Welche Vor- und Nachteile damit einhergehen, untersucht Nina Kolleck. 

An dieser Stelle hat unsere Redaktion Inhalte von TikTok integriert.
Aufgrund Ihrer Datenschutz-Einstellungen wurden diese Inhalte nicht geladen, um Ihre Privatsphäre zu schützen.

Als besonders positiv hebt die Wissenschaftlerin die Vielfalt der Modeströmungen hervor: "Mikrotrends sind nicht eindimensional, sondern umschreiben viele Facetten." Das könne der persönlichen Kreativität und dem Selbstwertgefühl zugutekommen, "weil die junge Generation ihrer eigenen Person Ausdruck verleihen kann und durch die Gemeinschaft darin bestärkt wird". Auch die dargestellten Körpertypen sind vielfältig: Die Menschen, die sich in den TikTok-Videos zeigen, entsprechen häufig nicht den gängigen Schönheitsidealen. "Dadurch können junge Menschen, die bestimmte Körpereigenschaften haben – die sich zu dick, zu groß, zu klein fühlen – auch eine Bestätigung finden."

Mikortrends können junge Menschen unter Druck setzen

Der Effekt könne aber auch ins Negative umschlagen. Mikrotrends können laut Nina Kolleck auch Druck bedeuten, "eine Art Konformitätsdruck, dem zu entsprechen, was dort dargestellt wird". Auch wenn die auf Social Media inszenierten Szenen oftmals nicht der Realität entsprechen: "Gerade dieses romantisierte Landleben hat mit dem eigentlichen Landleben wenig zu tun." 

Aus ihrer Forschung geht außerdem hervor, dass junge Menschen, die viel Zeit auf TikTok verbringen, sich häufiger vergleichen, was wiederum das Selbstwertgefühl schmälert: "Wer sich andauern vergleicht, fühlt sich selbst nicht wertvoll genug und setzt sich eher unter Druck, so auszusehen wie jemand anders." Das könne zum Beispiel Auswirkungen auf das Essverhalten haben. Wer sich einem Trend nicht anschließt, könne sich zudem ausgeschlossen fühlen – ein weiterer Dämpfer für das Selbstwertgefühl, meint Zukunftsforscher Stefan Tewes.

So wichtig Mikrotrends für die Selbstfindung auch sein mögen, so beschränken sich die TikTok-Videos und Moodboards doch nur auf das Aussehen. Im Mittelpunkt seht eine Identität, die sich auf das äußere Erscheinungsbild konzentriert. Eine Identität, die aus bestimmten Trends resultiert statt aus inneren Werten, sagt Nina Kolleck.

Warum Druck nach Zugehörigkeit so groß ist

Die Suche nach dem passenden Label; nach der richtigen Gemeinschaft; nach dem richtigen Lebensstil kann sich durch die Dauerspirale von TikTok-Trends nahezu endlos anfühlen – und unter Umständen zur Belastung werden. Der Druck, sich nach außen als Teil einer Gruppe zu definieren, sei enorm hoch innerhalb der Genation Z, erläutert die Erziehungswissenschaftlerin. Das liegt an der enormen Unsicherheit, von der junge Menschen geprägt seien: "Diese Generation gehört zu den krassen Verlierern der Corona-Zeit." 

Die Generation Z hatte während der Pandemie wenig Kontakt zur realen Welt, zur Natur und zu sozialen Beziehungen außerhalb des Internets. Das hat Spuren hinterlassen: "Junge Menschen haben dadurch den Zugang zum eigenen Körper und den eigenen Gefühlen weit verloren." Daraus resultiere eine tiefgreifende Verunsicherung, die von Mikrotrends teilweise abgefedern kann. Denn das Gemeinschaftsgefühl, das die einzelnen Subkulturen suggerieren, kann die velorene Sicherheit ein Stück weit zurückgeben. 

Mehr zum Thema