Mehr als vier Jahre ist es her, dass Walter Ungerböck das erste Schreiben von seinem US-amerikanischen Brieffreund Timmy Weber in den Händen hielt. Mittlerweile habe sich zwischen den beiden ein vertrautes Verhältnis, eine Freundschaft auf Augenhöhe entwickelt, berichtet Walter Ungerböck. Der 57-Jährige lebt in Österreich. Sein Brieffreund im Todestrakt des Ely State Prison im US-Bundesstaat Nevada. Seitdem Timmy Weber zum Tode verurteilt worden ist, seien rund 20 Jahre vergangen, die er in Einzelhaft abgesessen hat. Die Briefe nach Österreich seien für den Gefängnisinsassen die nahezu einzige Verbindung zur Außenwelt.
Briefkontakt mit Häftlingen
"Man merkt ihm an, dass er immer eine gewisse Traurigkeit und Einsamkeit verspürt", erzählt Walter Ungerböck im Gespräch mit dem stern. Über die "Initiative gegen die Todesstrafe" kam er mit dem Häftling in Kontakt. Der Verein engagiert sich für die weltweite Abschaffung des Todesurteils. Eine der Säulen, auf denen die Arbeit der Organisation fußt, ist die Unterstützung von Gefangenen mittels Brieffreundschaften. Als Walter Ungerböck darauf aufmerksam wurde, war ihm sofort klar, dass er einem Häftling schreiben wollte. "Es war ein plötzlicher Impuls", erinnert er sich. Als "unbewusste Empathie" beschreibt er das Gefühl, das er damals empfunden hatte.
Er bat um die Vermittlung eines Häftlings, der noch keinen Briefkontakt hatte, und erhielt daraufhin die Anschrift von Timmy Weber. "Die ersten Briefe waren inhaltlich sehr oberflächlich", erzählt der 57-Jährige. Inzwischen seien die Gesprächsthemen tiefer und vielfältiger. Fast wöchentlich schreiben sich die beiden. Manchmal erzähle der Amerikaner von einem Buch, das er gelesen hat, manchmal aus seiner Kindheit und Jugend, manchmal vom Leben im Gefängnis.
Todesstrafe ist rückläufig in den USA
23 Stunden am Tag müsse Timmy Weber in seiner isolierten Zelle verbringen, wo er "eine gewisse Anzahl an Gegenständen" – Papier, Stifte, Bücher, einen Fernseher – haben darf. Er lese viel, halte sich mit sportlichen Workouts beschäftigt. Die tägliche Stunde, die die Todestrakt-Insassen außerhalb ihrer Zelle verbringen dürfen, nutze der Amerikaner zum Duschen, für einen Gang über den Innenhof und zum Abholen der Post. Durch ein winziges Fenster in seiner Zelle könne er die Berglandschaft Nevadas sehen. "Er versucht, sich so gut wie möglich anzupassen, einfach zu überleben", sagt Walter Ungerböck.

Den Alltag im Todestrakt teilen nach Angabe des "Death Penalty Information Center", einer Organisation, die zum Thema Todesstrafe in den USA recherchiert und informiert, rund 2.450 weitere Häftlinge. In Nevada sitzen momentan 66 Gefangene im Todestrakt. Die USA haben die Todesstrafe nach einer zehnjährigen Pause im Jahr 1977 wieder eingeführt. Seitdem sind mehr als 1.500 Hinrichtungen durchgeführt worden. Die Tendenz ist rückläufig. Laut "Amnesty International" hat die Anzahl der Todesurteile im Vergleich zu den 90er-Jahren um 80 Prozent abgenommen. 23 US-Staaten haben die Todesstrafe aus ihren Gesetzbüchern gestrichen.
Mehrheit hält an der Todesstrafe fest
Die Mehrheit der Staaten und die Öffentlichkeit halten aber an Todesstrafe fest. Laut einer Umfrage des Markt- und Meinungsforschungsinstituts "Gallup" aus dem Jahr 2021 befürworten 54 Prozent der US-Amerikaner die Todesstrafe. Einmal verurteilt, müssen die Häftlinge bis zu vier Jahrzehnte im Todestrakt verbüßen. Im Durchschnitt liegen nach "Amnesty"-Angaben 20 Jahre zwischen Verurteilung und Hinrichtung. Das liegt einerseits an den langwierigen juristischen Prozessen. Wenn der Verurteilte Widerspruch einlegt, durchläuft das Verfahren etliche Berufungsprozesse, zwischen denen teilweise lange Fristen vergehen müssen. "Timmy hat ungefähr die Hälfte all dieser Einspruchsmöglichkeiten durchlaufen", erzählt Walter Ungerböck.

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Andererseits sind in einigen US-Staaten sogenannte Moratorien in Kraft getreten. Damit ist die Todesstrafe vorübergehend ausgesetzt. Das liegt unter anderem an Problemen mit der Giftspritze, die als primäre Hinrichtungsmethode in den USA gilt. Immer mehr Pharmaunternehmen haben sich in der Vergangenheit geweigert, die entsprechenden Chemikalien an Gefängnisse zu liefern. Die Engpässe haben in einigen Staaten zum Aufschieben der Hinrichtungen geführt.
Haft in Isolation
Die Zeit im Todestrakt verbringen die Insassen isoliert von den anderen Gefangenen und sind von den Bildungs- und Beschäftigungsprogrammen des Gefängnisses ausgeschlossen. Dass Häftlinge wie Timmy Weber nicht arbeiten dürfen, ist in den Augen von Walter Ungerböck ein "Teil der Strafe und eine weitere Demütigung". Zur Isolation kommt die Ungewissheit über ein mögliches Hinrichtungsdatum. Das "Death Penalty Information Center" spricht von "entwürdigenden Lebensbedingungen".

Genauso sieht es die "Initiative gegen die Todesstrafe", deren Widerstand auf der "Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte" der Vereinten Nationen gründet. Das Dokument von 1948 beinhaltet die Todesstrafe zwar noch nicht, allerdings forderte die UNO im Jahr 1966 ihre Mitgliedsstaaten explizit zum Abschaffen der Todesstrafe auf. Gabi Uhl, Vorsitzende der Initiative, ist der Überzeugung, "dass die Todesstrafe bloß neues Leid verursacht und nicht den Nutzen hat, den Befürworter sich erhoffen". Besonders die Wirkung als Abschreckung lässt sich statistisch nicht belegen.
Todesstrafe kostet drei Mal mehr als lebenslängliche Haft
Hinzu kommen die hohen Kosten der Todesstrafe. In dem Moment, in dem die Staatsanwaltschaft das Todesurteil anstrebt, sei der ganze Prozess, vom rechtlichen Beistand bis zur Auswahl der Geschworenen plus die lange Haftzeit sehr kostenintensiv. "Im Schnitt dreimal teurer als eine lebenslange Haftstrafe", erläutert Gabi Uhl im Gespräch mit dem stern. Laut Angaben von "Amnesty International" belaufen sich die durch Todesurteile verursachten Gesamtkosten für die US-amerikanischen Steuerzahler auf mehrere zehn Millionen Dollar im Jahr.
Auch wenn er die Chancen als gering einschätzt, wünsche sich Timmy Weber nichts mehr, als dass sein Urteil in eine lebenslängliche Haftstrafe umgewandelt wird. Dann würden sich seine Haftbedingungen ändern und er dürfte einer Arbeit nachgehen. "Jede Kleinigkeit, die für einen Menschen in Freiheit selbstverständlich ist, ist für ihn unmöglich", sagt Walter Ungerböck. Sein Brieffreund leide seit einiger Zeit an einer schmerzhaften Gelenksentzündung. Bis er einen Termin beim Gefängnisarzt erhielt, waren mehrere Anträge sowie mehrere Monate Wartezeit nötig. Der Mediziner überwies ihn schlussendlich an eine Klinik außerhalb der Haftanstalt.
"Das war ein Sicherheitsaufwand von über einer Woche", berichtet Walter Ungerböck. Der Häftling sei mit einem hoch gesicherten Fahrzeug in die Stadt gebracht und in einer speziellen Krankenzimmer-Zelle untergebracht worden. Corona-Bedingungen hätten den Transport zusätzlich erschwert. "Trotzdem hat es ihm in der Klinik gefallen, weil das Zimmer über eine Heizung verfügt hat", erzählt der Österreicher.
"Fast schon Galgenhumor"
Timmy Weber habe auch eine humorvolle Seite an sich, "fast schon Galgenhumor", findet Walter Ungerböck. Die Witze – meist zynische Bemerkungen – kennzeichne der Amerikaner mit Ausrufezeichen oder einem Smiley. Als der Österreicher nach mehreren Jahren den Charakter seines Brieffreundes einschätzen konnte, ließ er ihm eine Information zukommen, "die sich wohl nicht jeder trauen würde, weiterzugeben". Walter Ungerböck hatte im Internet Bilder von den Grabsteinen der Opfer von Timmy Weber gefunden und ihm eröffnet, dass die Toten eine würdige, gepflegte Ruhestätte hätten.
Der Häftling habe ihm geantwortet, dass er dankbar für diese Mitteilung sei. Die Opfer, das waren seine Lebensgefährtin und deren Sohn. Vor dem Mord habe Timmy Weber jahrelang die Tochter seiner Lebensgefährtin sexuell missbraucht. Als die Mutter und der Bruder dahinterkamen, brachte er beide um.
Verbrechen nicht verharmlosen
Walter Ungerböck geht es keinesfalls darum, dieses Verbrechen zu bagatellisieren. Er betont, dass solch schwere Vergehen angemessen bestraft und die Täter weggesperrt werden sollten. Mit dem Todesurteil hingegen "ist niemandem geholfen".

Auch die "Initiative gegen die Todesstrafe" will die "unermesslich schlimmen" Straftaten, die die Todestrakt-Insassen begangen haben "weder verharmlosen noch dafür plädieren, dass es keine oder eine zu geringe Strafe geben soll." Man lehne das Verbrechen natürlich ab, unterstreicht Gabi Uhl. Trotzdem sehe man in dem Täter noch immer den Menschen. Es geht dem Verein darum, "den Gefangenen als Menschen zu respektieren, ohne seine Tat zu akzeptieren".
Die eine Motivation gibt es nicht
Mit diesem Grundsatz im Kopf hat Walter Ungerböck sein erstes Schreiben an Timmy Weber verfasst. Der 57-Jährige habe versucht, sich in die Psyche des Häftlings zu versetzen und dessen Ängste zu verstehen. Es sei ihm wichtig gewesen, dem US-Amerikaner von Anfang an zu vermitteln, dass er in dem Österreicher einen stabilen Brieffreund habe. Dass der Häftling "mindestens ein Menschenleben auf dem Gewissen hat", sei Walter Ungerböck von Anfang an klar gewesen. Die Straftat und das Todesurteil hätten für ihn aber nicht im Vordergrund gestanden, sondern der Umstand, dass "ein Mensch in der Scheiße sitzt, sich absolut nicht mehr helfen kann und sich bloß nach Kontakt zur Außenwelt sehnt", erklärt der Österreicher.
Nicht selten werden Mitglieder der "Initiative gegen die Todesstrafe" mit Kritik oder Ablehnung konfrontiert. Man könne zwar den Widerstand gegen die Todesstrafe nachvollziehen, für einen persönlichen Kontakt zu den Häftlingen bringen jedoch weniger Menschen Verständnis auf. Die Motivation für eine Brieffreundschaft lasse sich nicht allgemein erklären, findet Gabi Uhl. Einerseits handele es sich um besondere Kontakte, da sie nicht der Norm entsprechen. "Andererseits ist es aber in vieler Hinsicht so normal wie der Kontakt zu anderen Menschen", sagt die Vereinsvorsitzende. Wie jede andere Freundschaft basiere der Austausch mit den Gefangenen auf einem Geben und Nehmen – im Idealfall zumindest.
"Gewinnbringende Beziehungen"
Natürlich habe man auch negative Erfahrungen gemacht, erklärt Gabi Uhl. Immerhin handele es sich bei der Mehrheit der Insassen um Schwerverbrecher. "Zu erwarten, dass das ausschließlich brave und liebe Jungs sind, wäre auch naiv", stellt sie klar. Es sei bereits vorgekommen, dass die Häftlinge versuchen, ihre Brieffreunde auszunutzen. In solchen Fällen geht es vor allem um Geld: Die Insassen verlangen teilweise hohe Summen von ihren Bekanntschaften. Dabei handele es sich aber um vereinzelte Vorfälle. "Meistens sind es für beide Seiten gewinnbringende Beziehungen", fasst Gabi Uhl die Erfahrungen der Mitglieder zusammen.

Das trifft auch auf Walter Ungerböck zu. "Es hat über ein Jahr gedauert, bis Timmy überhaupt mal eine kleine Summe von 20 Dollar angenommen hat", erinnert sich der Österreicher. Der Häftling habe von Beginn an betont, dass er Angst hätte, sein Brieffreund könnte sich ausgenutzt fühlen und den Kontakt abbrechen. Aus dem intensiven Schriftverkehr hat sich für Walter Ungerböck eine gefestigte Freundschaft entwickelt. Der 57-Jährige betrachtet sich "als Profiteur" des Austausches. "Ich merke, dass es mir guttut", sagt er.
Besuch im Gefängnis geplant
Neben seinem Brieffreund und seiner Anwältin pflege Timmy Weber noch telefonischen Kontakt zu seiner Tante und seinem Bruder in Chicago. "Persönliche Besuche hingegen sind ein Thema, über das er nicht gerne schreibt." Nicht nur, dass zwischen den Staaten Nevada und Illinois mehrere Flugstunden liegen, sondern auch die abgelegene Lage des Gefängnisses erschwert die Besuchsmöglichkeiten. Trotzdem möchte der Österreicher "in absehbarer Zeit" in die USA fliegen, um seinen Brieffreund persönlich kennenzulernen. "Ich möchte ihn auf jeden Fall einmal besuchen", hat sich der 57-Jährige vorgenommen.
Walter Ungerböck hat sich darüber hinaus auch mit der möglichen Exekution von Timmy Weber beschäftigt. Er hat sich sogar überlegt, wie er reagieren würde, falls sein Freund ihn bitten würde, Zeuge der Hinrichtung zu werden. "Das wäre heftig", sagt der Österreicher, doch mit gefasster Stimme fügt er hinzu: "Aber ich würde es wahrscheinlich machen."
Quellen: "Amnesty International" (I), "Amnesty International" (II), "Death Penalty Information Center" (I), "Death Penalty Information Center" (II), "Gallup" "Initiative gegen die Todesstrafe"