Heimat, das ist eine Holzbank vor "Bobo's Trinkhalle" in Bochum. Dort sitzt Uwe Boretzki, der Betreiber, und beobachtet den Verkehr, der auf vier Spuren vorbeidröhnt. Ein Mann mit Kaiserbart, gestreiftem Hemd und roten Schuhen. Fast jeder spricht ihn an. Eine Frau ruft: "Uwe, wat macht der Krebs vonne Mutter?" "Scheiße!", antwortet er und fragt zurück: "Und wat macht dein Sohn?" Wenn jemand Kippen, Kaffee, Bier oder "Klümpkes", wie Bonbons hier heißen, kaufen will, schiebt er sie in seinem 15-Quadratmeter-Lädchen über die Theke. Uwe wurde vor 63 Jahren "umme Ecke" geboren. Die Trinkhalle, sagt er, sei sein "Lebenstraum."
Es ist Vormittag. Ferdi, 77, trippelt heran. Acht Minuten hat er von seiner Wohnung zu Bobo gebraucht. Der frühere Schlosser nimmt den beschwerlichen Weg täglich, um im Hinterzimmer zwischen den Bierkisten eine Flasche Freixenet zu leeren. "Ich kann mir dat leisten, war 46 Jahre anne Schüppe", sagt er. Als Rentner gehe es ihm gut, finanziell. Er gießt das Wasserglas voll. Dann sprudelt Frust aus ihm heraus. Er schimpft auf Trump, "der die Erde beherrschen will". Auf Heimatminister Seehofer, "der allet zerstört". Auf die Nationalelf: "Der Fußball is genauso kaputt wie die Regierung." Seit 44 Jahren ist Ferdi Sozialdemokrat, und jetzt laufen viele seiner Genossen zur AfD über. Wenn er zu Hause über "den Wahnsinn" nachdenkt, muss er dringend zu Bobo.
Dorfplätze der Großstadt
Trinkhallen – das sind "die Dorfplätze der Großstadt", sagt der Bochumer Historiker Dietmar Osses. Bobo ist einer von rund 44 000 bundesweit. In Köln heißen sie Büdchen, in München Standln, in Berlin Spätis und in Frankfurt Wasserhäuschen. "Im Ruhrgebiet", so Osses, "ist die soziale Funktion allerdings einzigartig." Weil die Buden noch wie früher funktionieren. Sie sind Ankerpunkte im Viertel. Mütter tauschen hier ihre Sorgen aus. Rentner politisieren. Und die Elenden suchen am Tresen Halt. "In jedem Dorf gibt es Dorftrottel und gescheiterte Existenzen", sagt Osses. "Aber eben auch ein Netz, das sie auffängt."
So viel positives Klischee muss vermarktet werden, dachte sich die Ruhr Tourismus GmbH – und ersann einen Festtag: den "Tag der Trinkhallen". Am 25. August findet er das zweite Mal statt. Dann spendiert der Fremdenverkehrsförderer 50 Buden in 21 Revierstädten Livemusik, Kabarett und Straßentheater. Beim ersten Mal kamen Tausende Besucher – viele auch zu Bobo. Sogar die "Tagesthemen" berichteten. Danach holten sich andere Großstädte von Ruhr Tourismus-Chef Axel Biermann Tipps für eigene Kiosk-Ehrentage. Biermann überraschte das nicht: "Heimat, das ist ein klarer Trend."

Heimat, das ist auch ein Stehtisch am Freigrafendamm – fünf Gehminuten von Bobo entfernt. Dort steht Dirk Boretzki, 55. Er trägt langes, lockiges Haar, Vollbart und Cargo-Kleidung. Dirk ist Uwes Bruder, was man ihm nicht unbedingt ansieht. Auch er betreibt eine Trinkhalle, den "Kult-Kiosk". Auch er sagt: "Mein Lebenstraum."
Vor dem Kiosk sitzen die morgendlichen Stammgäste. Karin, eine Frau mit Tattoos, Jeansjacke und zwei Hunden. Sie fährt am nächsten Tag an die Ostsee und schmeißt lautstark eine Runde Kaffee: "Ich kann hier keinen Morgen vorbeigehen." Schon jetzt freut sie sich auf die Heimkehr. Ihr gegenüber hockt Rüdiger mit der "Bild". Er sieht wie 55 aus, ist aber schon 15 Jahre Rentner. Wie er das macht? "Ich gehe jeden Morgen ins Schauspielhaus in die Maske!" "Bruhaha!" Karin prustet vor Lachen.
"Ich hab 'ne Fleischwurst im Mopped…"
Dann kommt Norbert auf dem Moped angefahren und zerstört die Harmonie. Er ist 69, war mal Dachdecker. "Wat willst du Kanake schon wieder hier", raunt er einen ausländischen Gast an. "Du gehe lieber arbeiten!", schießt der zurück. "Arbeiten?", faucht Rentner Norbert. "Ich hab 'ne Fleischwurst im Mopped, die kann ich dir innen Arsch schieben." Dirks Frau Regina ruft: "Jetzt hör ma' auf, Norbert!"
Norbert hat die "Kanaken" schon mal im Fernsehen beschimpft, als der WDR aus dem "Kult-Kiosk" sendete. Die "Scheißpolitiker", knötterte er, wüssten gar nichts, die sollten mal kommen und gucken, wie die Asylanten den Müll neben die Container schmeißen. Kurz darauf kam der damalige SPD-Chef Martin Schulz tatsächlich zum Kult-Kiosk. Aber da war Norbert nicht da.

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Dirk kennt die Geschichten. Tausendmal gehört. Er sieht müde aus. Seit fünf Uhr ist er auf den Beinen und wird vor 21 Uhr nicht zu Hause sein – wie fast jeden Tag. Noch hat er nicht viel in der Kasse, allein für die Miete muss er 1300 Euro aufbringen. Regina und er haben für ihren "Lebenstraum" alles runtergefahren, "kleineres Auto, kleinere Wohnung". Dabei ging es ihnen mal prächtig. Er hat Industrie-Isolierer gelernt, sein Bruder Uwe Betriebswirt. Zusammen besaßen sie eine Baufirma, die florierte, "15 Angestellte". Dann, 2001, ging ihr größter Auftraggeber pleite und riss sie mit.
Danach versuchte Dirk sich als Innenausbauer durchzuschlagen. Er ging sogar ins ewige Eis, eine Forschungsstation mit aufbauen. Schweigend schiebt er ein Fotoalbum auf den Stehtisch. "I will never forget. Mein Trip in die Antarktis" steht darauf. Aber der ist lange her. Zurück in Bochum hat er die 70 Jahre alte Bude vom "ollen Kortmann" übernommen, die er schon als Kind kannte. Mitsamt der Stammkunden. Dann aber kamen die Bagger, die Bude wurde für einen Neubau plattgemacht. Dirk musste mit dem "KultKiosk" in ein Eckhaus umziehen. Ohne die Stammkunden. Und ohne Entschädigung.
Analoges Facebook
Ein Kunde reißt ihn aus den Gedanken. Er will Kaffee und Salmiakpastillen. Nicht gerade ein dickes Geschäft. "Wenn du dat hier als Job siehst", sagt Dirk, "is dat traurig. Wenn du dat als bezahlte Freizeit siehst, is dat in Ordnung."
Es liegt wohl an ihren Wurzeln, dass die Brüder Boretzki ihren Lebenstraum schließlich in die Trinkhalle verlagert haben. Die Bude bildete das soziale Zentrum ihrer Kindheit. Ein analoges Facebook. Beim "ollen Kortmann" tratschten die Anwohner, stritten und versöhnten sich, passten aufeinander auf. Die Zeitschriften am Kiosk boten Fußballhelden, Popstars, nackte Brüste. "Bild" erklärte, was gut und böse ist. Dann die geliebten "Tüten Buntes": Lakritzrollen, Leckmuscheln, Weingummischnuller. Mit Salmiakpastillen und Spucke formten sie "schwatte Sterne" auf den Handrücken und leckten sie ab.

In "Bobo's Trinkhalle" sitzt Uwe im Hinterzimmer und spielt am PC "Conan Exiles", wo er ein prähistorisches Königreich aufbauen muss. "Mich interessiert: Woher kommen wir, wohin gehen wir", sagt er. Wenn wenig los ist, schaut er gern Vorlesungen über Religion oder Physik auf Youtube. Er hat sogar Nietzsches "Zarathustra" gelesen, "aber der hat ja nicht alle auffe Latte. Übermensch und so." 800 Bücher stehen in seiner Wohnung gleich über der Trinkhalle. Uwe ist stolz auf jedes einzelne: "Man wird gelassener mit ein bisschen Hintergrundwissen."
Der Budenbetrieb, 14 Stunden, 365 Tage im Jahr, verlangt ihm vieles ab. Empathie. Ein dickes Fell. Leidensfähigkeit. Seine Frau Erika, 71, kommt zur Ablöse. "Jeden Tag hier zu stehen, halte ich nicht länger als vier Monate aus. Dann brauche ich wenigstens ein langes Wochenende." Uwe weiß: "Dann is hier Strom inne Tapete." Selten verreisen sie, mal eine Woche an die See. Dann springt Erikas Tochter oder die alte Dame von Gegenüber ein. 16 Tage Jahresurlaub, mehr ist nicht drin. Freie Wochenenden eingerechnet.
"Bobo's Trinkhalle"
Im Schnitt kommen 100 Kunden am Tag. Am besten läuft es am Monatsende, wenn es Rente gibt, und ab dem 15., wenn Hartz IV ausgezahlt wird. "Dann tanzt hier drei Tage der Bär", sagt Uwe. Auf fünf Euro Stundenlohn kommen Erika und er trotzdem nie. Sie müssen sich also mit rund der Hälfte des deutschen Mindestlohns begnügen: "Es gibt sogar Tage, im Januar zum Beispiel, da haben wir abends keine zehn Euro auffe Hand." Erika sagt: "Trotzdem sagen wir nie: Allet Kacke."
Wer reich werden will, sagt Uwe, sollte die Finger von Trinkhallen lassen. In den Siebzigern ging das noch. Heute sei die Konkurrenz zu groß. Die Tankstellen-Shops. Die ewig geöffneten Supermärkte. Damit überhaupt etwas übrig bleibt, muss er sehr spitz kalkulieren. Jeden Morgen durchstöbert er die Werbeprospekte nach Schnäppchen. Er kauft selber im Großhandel ein, Lieferanten kann er sich nicht leisten. Bei "Ratio" haben sie heute "Salinos", 150 Stück für 4,29 Euro. Er wird sie für zehn Cent pro Stück für die "bunte Tüte" anbieten. Beim Schnaps schlägt er fünf Euro auf den Einkaufspreis.
Boretzkis Bude muss nur zwei Leute ernähren. Das ist vergleichsweise komfortabel. Gut 70 Prozent der deutschen Betreiber sind Migranten, bei denen oft die ganze Großfamilie mitschuftet. Da fällt der Stundenlohn schnell auf Cent-Werte. Der durchschnittliche Kiosk-Tagesumsatz liegt bei 390 Euro. Und diese Summe ist sogar noch durch den Lotto- und Fahrscheinverkauf, der fast nichts abwirft, aufgebläht.
Ein Mann um die 30, der verloren wirkt, kommt in "Bobo's Trinkhalle". "Eine Marlboro und ein Paderborner." Er leert die Flasche in der Einfahrt neben dem Kiosk, obwohl er das eigentlich nicht darf. Uwe besitzt, wie die meisten Kioskbetreiber, keine Schanklizenz. "Wat willse machen, den armen Kerl wechschicken?", fragt er streng, als wolle er sich selbst überzeugen. Wer die Marke "Paderborner" ordert und nicht das teurere, heimische "Fiege", habe oft ein Problem. Zigaretten und Alkohol sind Uwes Schlüsselprodukte. "Du musst so viele Kippen verkaufen, dass die Kosten für Miete, Strom, Telefon und Krankenversicherung gedeckt sind." 60 Prozent des Umsatzes sollten sie einfahren, 20 Prozent der Alkohol.
"Irgendwann war er einfach tot"
Ursprünglich, im 19. Jahrhundert, waren Trinkhallen mal Quellen des Lebens. Hier gab es Heilwasser für das Bürgertum und Selters für die Fabrikarbeiter, daher der Name. Aber heute? Uwe und Erika senken ihre Stimme und berichten von dem großen Dilemma, in dem sie leben. "Drei Menschen haben wir schon an den Alkohol verloren", sagt Erika. "Einer war noch ganz jung. Dem habe ich immer gesagt: Hömma, lass dat Bier doch stehen und nimm lieber ein Wasser. Ich habe ihm sogar Graupensuppe gekocht, damit er auf die Beine kommt." Irgendwann war er einfach tot.
Bei Uwe haben die Ärzte vergangenes Jahr Prostatakrebs festgestellt. "Ganz böse", sagt er. Dann greift er wieder zu seiner Tabakpackung: "Am Ende kannst du nicht tiefer fallen als in Gottes Hand.
Der Artikel über Trinkhallen im Ruhrgebiet ist dem aktuellen stern entnommen: