Das Leben ist eine Baustelle. Um das zu merken, muss ich nicht mal das Haus verlassen. Bei uns im Innenhof steht ein Gerüst, denn es regnet durchs Dach und die daraus resultierenden Mietminderungen mag die schwerreiche Hamburger Eigentümerfamilie wohl nicht mehr hinnehmen. Vorne am Haus steht auch ein Gerüst, beide Gerüste stehen da seit Wochen und verdüstern den Blick auf die Außenwelt. Bauarbeiter sind bisher nicht gesichtet worden. So ist das hier, sagt mein aus Frankreich eingewanderter Mann: Die Deutschen sperren erst mal alles ab und erledigen die Arbeit später, oder noch später. "Arrête", rufe ich, warte mal! Genau das meine ich, lächelt er.
Das Gefühl der Woche: Baustelle
Es stimmt ja, wohin man auch schaut: Rot-weißes Flatterband überall, hier gesperrt, dort Umleitung, Durchgang nur für Fußgänger, auf dem Weg zur Arbeit trage ich mein Fahrrad über Treppen und andere Hindernisse. U-Bahn, Bus- und Zugpassagiere warten auf Anschluss. Stuttgart 21 wartet bis 27. Autofahrer warten im Stau. Deutschland, du alte Baustelle, ich habe Flatterband-Frust!
Warte mal, sagt mein Berliner Kollege Nico Fried, der auch viel im Stau steht, weil die Ringbahnbrücke gesperrt und deshalb die Stadtautobahn nur einspurig ist. Warte mal, bis die 500 Milliarden Euro Sondervermögen für Infrastruktur erst ausgegeben werden! "Investitionsoffensive" nennt es die Bundesregierung und das klingt voll nach Tempo, oder?
Nico ist jedenfalls entschlossen, künftig mit einem Lächeln im Stau zu stehen. "Die Großeltern erlebten den Krieg, die Eltern schufteten sich den Buckel krumm", schreibt er, "Wir aber werden unseren Enkeln erzählen können: Damit ihr es einmal besser habt, sind wir auf der Bahnstrecke von Berlin nach Hamburg nicht über Wittenberge und Ludwigslust, sondern über Stendal und Uelzen gefahren. Das ist doch ein gutes Gefühl, oder?"
Stimmt. Denn Baustellen sagen nicht nur: Hier geht's nicht weiter, sondern auch: Hier beginnt etwas Neues. Ja, es mag vorübergehend laut, dreckig und nervig sein und es dauert. Aber es wird! Schön wäre ja, wenn es gelänge, diese Haltung auch auf innere Baustellen zu übertragen. Ich müsste mich beispielsweise mehr für meine Finanzen interessieren, Rücklagen bilden, Vermögensaufbau, was wird mit der Rente und so was. Dieses Gebiet ist bei mir aber innerlich abgesperrt, ich denke in Umleitungen. Die Baustelle scheint mir zu groß und unübersichtlich. Dabei ist Verzögerung am Bau – psychologisch Prokrastination – sehr verbreitet, sagt die Psychologin Stefanie Stahl. Die meisten Menschen vermeiden das Arbeiten auf inneren Baustellen, weil sie die mit schlechten Gefühlen verbinden.
Kennen Sie Ihre inneren Absperrungen?
"Wir schieben zum Beispiel das Bewerbungsschreiben auf, um keine Versagensangst zu spüren", sagt Stahl. "Prokrastinierende Menschen sind häufig auch Perfektionisten: Sie haben hohe Ansprüche an sich und ihre Leistungen und fühlen sich schnell unzufrieden oder schuldig, wenn sie nicht die Hundert-Prozent-Marke erreichen." Die Psychologin empfiehlt eine intensive Baustellen-Begehung, um genau hinzuspüren, wo das Flatterband gespannt ist. Ist es Erfolgsdruck? Die Furcht vor Kontrollverlust? Sind es anerzogene Ängste? Wer das von sich selbst weiß, kann endlich den Bagger kommen lassen und ordentlich umbauen, auf dass alles neu und schön werde.
Manchmal aber, denke ich, muss man das Flatterband auch einfach flattern lassen. Die Rechtschreibung meines Zwölfjährigen beispielsweise ist eine Baustelle, seine Lehrerinnen raten dringend zu einem Legasthenietest. Wartet mal, sage ich, sein vorpubertäres Hirn hat weiträumig abgesperrt, da ist gerade kein Durchkommen. Normal! Er und ich fahren am Wochenende zur Familie nach Berlin. Weil die Strecke saniert wird, bummelt der ICE über Uelzen, wir werden also viel Zeit im Zug haben. Wir werden lesen, reden und Zungenbrecher buchstabieren: Zwölf Zimmerer wollen zwischen zerklüfteten Ziegelzargen zupacken, während sechs schnaubende Schuttschlepper – leider schlotternd – schräg verschachtelte Stahlstützen stapeln.
Genießen Sie Ihre Umleitungen!