Kriminalitätsstatistik "Was an mir rechtfertigt einen solchen Hass?": Georgine Kellermann und andere über Gewalt gegen Queere

Die Zahl queerfeindlicher Straftaten ist im Vergleich zum Vorjahr um fast 50 Prozent gestiegen. Dem stern haben Georgine Kellermann, Anastasia Biefang, Sven Lehmann und andere Prominente erzählt, was an dieser Statistik so bedrückend ist.
Georgine Kellermann (Gewalt gegen Queere)
Die queere Trans-Aktivistin und Journalistin Georgine Kellermann hatte 2019 ihr Coming-Out
© DPA

Gewalt gegen queere Menschen nimmt zu. Die Anfang der Woche von Bundesinnenministerin Nancy Faeser veröffentlichte Statistik zu politisch motivierter Kriminalität zeigt: 1499 queerfeindliche Straftaten wurden in Deutschland 2023 gemeldet. Das ist ein Anstieg von fast 50 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Die Polizei geht dabei von einer Dunkelziffer von 90 bis 95 Prozent aus. Die Zahl der registrierten Straftaten könnte auch deshalb steigen, weil die Meldebereitschaft größer ist. Gerade die höhere Sichtbarkeit von queeren Menschen im Alltag spricht jedoch eher für einen tatsächlichen Anstieg der Gewalt, sagen Menschen wie Sven Lehmann, Queerbeauftragter der Bundesregierung – denn mehr Sichtbarkeit kann auch mehr Angreifbarkeit bedeuten. Dem stern haben Sven Lehmann, Georgine Kellermann, Anastasia Biefang und andere erzählt, welche Szenen und Erinnerungen ihnen durch den Kopf gehen und was die steigende Gewalt für sie bedeutet. 

Georgine Kellermann, Journalistin, Autorin und Trans-Aktivistin

Georgine Kellermann, 66, Journalistin, ehemalige Leiterin des WDR-Studios Essen. 2019 hatte sie ihr öffentliches Coming-Out. 2023 ging Kellermann nach mehr als 40 Jahren Berufstätigkeit in den Ruhestand. 
Georgine Kellermann, 66, Journalistin, ehemalige Leiterin des WDR-Studios Essen. 2019 hatte sie ihr öffentliches Coming-Out. 2023 ging Kellermann nach mehr als 40 Jahren Berufstätigkeit in den Ruhestand. 
© Annika Fußwinkel / WDR

Wenn ich diese Zahlen lese, kommt mir eine Erinnerung in den Kopf. Als ich noch für den WDR arbeitete, wollte ich mit der S‑Bahn von Ratingen ins Studio fahren. An diesem Dienstag hätte ich besser den Wagen genommen.

Als ich zum Bahnsteig hochkam, sah ich weiter vorne ein junges Paar. Als ich kurz davor war, an den beiden vorbeizugehen, entdeckte mich der junge Mann. Er riss die Augen weit auf, sprang auf mich zu und schrie etwas, das ich nicht richtig verstand, weil ich so erschrocken war. Seine Partnerin rief: "Was soll das? Lass die doch in Ruhe!" Er schrie zurück: "Ey, das ist ein Mann!" "Ja und?", schrie sie zurück. "Was geht dich das an?" Ich rief ihr erleichtert "Danke" zu.

Die S‑Bahn fuhr ein. Als ich mich nach links drehte, sah ich, wie der junge Mann rasch auf mich zukam. Das Gesicht vor Wut verzerrt. Ich hoffte inständig, die Türen würden sich öffnen. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor. Ich glaube, ich hatte Angst, aber die spürte ich nicht. Als er bei mir ankam, rief er: "Wenn ich dich noch einmal sehe, bringe ich dich um!"

"Auf meine Angst folgte Wut über die eigene Ohnmacht"

Dann gingen die Türen auf. Mit mir stieg ein Student ein, der mich fragte, ob ich Hilfe bräuchte. Ich verneinte. Draußen stand der Angreifer. Ich wollte an der Türe bleiben, damit er nicht in den Zug springen konnte. Der Student stand neben mir. So blockierten wir den Zutritt. Doch die Tür ging einfach nicht zu. Wieder fühlte es sich an wie eine Ewigkeit. Wieder spürte ich diese Angst in mir, die nicht richtig hochkam, weil ich sonst unfähig gewesen wäre, zu reagieren.