Auf den Balkon, auf dem Mariam Rigvava jetzt ruhig in der Sonne steht, von dem man die Hügel hinter der Stadt sehen kann, kletterte vergangenes Jahr ein rechter Mob. Unter Pfiffen und Gegröle erklommen Männer am helllichten Tag die Fassade bis in den zweiten Stock. Ein Video zeigt, wie ein Mann die Regenbogenfahne abreißt und herunterwirft. "Vom Balkon aus drangen sie ins Büro ein und zerstörten alles", sagt Rigvava, die in dem Büro arbeitet, bei Tblisi Pride, einer LGBTQ+-Organisation. Zum Glück sei an dem Tag niemand dort gewesen.
In Georgien wird am 26. Oktober gewählt. Laut Umfragen möchte eine große Mehrheit in die EU, trotzdem ist nicht ausgeschlossen, dass die Regierungspartei Georgischer Traum gewinnt, die inzwischen einen prorussischen Kurs eingeschlagen hat. Im vergangenen Dezember wurde Georgien sogar EU-Beitrittskandidat – wenn auch nur kurz. Nachdem die Regierung das umstrittene Gesetz zur ausländischen Einflussnahme verabschiedet hatte, legte die EU den Prozess wieder auf Eis. Das Gesetz, ähnlich einer Regelung in Russland, verpflichtet etwa Organisationen, die mehr als ein Fünftel ihrer Finanzierung aus dem Ausland erhalten, sich als "Agenten ausländischer Einflussnahme" zu registrieren.
Die Furcht der liberalen Opposition
Für die queere Community im Land steht bei der Wahl besonders viel auf dem Spiel. Vor ein paar Wochen brachte der Georgische Traum eine weitere Regelung durch, die die Rechte von LGBTQ+-Personen drastisch einschränkt. Das umstrittene Gesetz zum Schutz von Familienwerten und Minderjährigen verbietet unter anderem angebliche LGBT-Propaganda, gleichgeschlechtliche Ehen und medizinische Eingriffe zur Geschlechtsangleichung.
Sollte die Regierungspartei die Wahlen gewinnen, fürchten die Aktivisten von Tblisi Pride weitere Repressionen. Denn deren Kandidat Bidzina Ivanishvili hat angekündigt, gegen die liberale Opposition vorzugehen. Ivanishvili ist einer der reichsten Männer und seit vielen Jahren eine der bestimmenden Persönlichkeiten des Landes; lange Zeit hielt er sich im Hintergrund, nun strebt er offen nach der Macht.
"Es könnte sein, dass ihr uns im Gefängnis sitzen seht", sagt Rigvavas Kollegin Tamar Jakeli. Im schlimmsten Fall würden sie das Land verlassen. Das Büro mit dem Balkon und der Regenbogenfahne würde dann voraussichtlich schließen. "Wahrscheinlich müssten wir in den Untergrund gehen. Aber das geht gegen alles, wofür Tblisi Pride steht: Offenheit und Sichtbarkeit", sagt Jakeli.
Zwar betont die Regierungspartei immer wieder, wie wichtig auch ihr der EU-Beitritt sei. Doch es wird zunehmend unbehaglich, Spitzenkandidat Ivanishvili bei seinen Wahlkampfreden zu folgen. Er spricht nicht nur von Agenten und liberalem Faschismus, sondern verbreitet die Verschwörungserzählung einer mysteriösen "Globalen Kriegspartei", die angeblich signifikanten Einfluss auf Europa und die USA ausübe.
Taktieren in der Europa-Frage
"Wir brauchen einen klaren Sieg, entsprechend einer verfassungsmäßigen Mehrheit bei diesen Wahlen, um die 'Globale Kriegspartei' ein für alle Mal zu beenden", sagte Ivanishvili im Juli bei der Eröffnung der neuen Parteizentrale des Georgischen Traums. "Damit Georgien seine friedliche Entwicklung und sein Wirtschaftswachstum fortsetzen und das Niveau des europäischen Wohlstands erreichen kann, was die wichtigste Voraussetzung für die europäische Integration ist."

Der Analyst Vano Chkhikvadze von der Stiftung Open Society Georgia fasst Ivanishvilis Strategie so zusammen: Sich offen gegen die EU-Integration auszusprechen, würde für jede Partei das politische Aus bedeuten. Der Tenor der Regierungspartei sei deshalb, dass man der EU beitreten wolle, aber unter eigenen Bedingungen. Zum Beispiel ohne einen Artikel über die europäischen Werte im Vertrag. Ivanishvili wolle damit suggerieren, dass es möglich sei, für den Georgischen Traum zu stimmen und gleichzeitig für Europa zu sein.
Auf den Wahlplakaten seiner Partei sind sechs gelbe Sterne zu einem Halbkreis angeordnet, auf blauem Hintergrund. In Tiflis kleben von ihnen meist nur noch Reste an den Wänden. Auffälliger sind die riesigen Banner und Reklamekästen, die nachts an Bushaltestellen leuchten. Sie alle zeigen das gleiche Szenario: rechts idyllische Bilder aus Georgien; eine Kirche, eine Brücke, ein Linienbus. Links daneben, in schwarz-weiß, das Äquivalent aus der Ukraine, aber komplett vom Krieg zerstört. Und darunter der Slogan "Nein zum Krieg! Wählt den Frieden!".
Die Botschaft des Georgischen Traums ist simpel: Wählt uns, oder es gibt Krieg. Und sie ist nicht neu. Schon der ehemalige Premierminister Irakli Garibashvili hatte behauptet, wenn die Opposition an die Macht käme, dann gäbe es in Georgien ein zweites Mariupol – er bezog sich damit auf die lange hart umkämpfte Stadt im Süden der Ukraine. Das kommt an, in einem Land, das 2008 selbst einen kurzen Krieg mit Russland um die Provinz Südossetien und Abchasien erlebt hat.
Kürzlich ging Ivanishvili sogar noch einen Schritt weiter: Er schlug vor, dass Georgien sich für diesen Krieg entschuldigen könnte. Für Elene Khoshtaria hat Ivanishvili damit eine rote Linie überschritten. Khoshtaria steht an der Spitze der Oppositionspartei Droa!, was so viel bedeutet wie "Es wird Zeit!". "Wir sind eine traumatisierte Gesellschaft", sagt Khostaria, "sie verängstigen die Leute, erpressen sie, für sie zu wählen, mit der Angst vor einem hypothetischen Krieg." Khostaria gibt sich trotzdem optimistisch: "Die Leute erkennen, dass es nicht um Krieg oder keinen Krieg geht, sondern um Europa und Russland."
Die meisten der Oppositionsparteien haben ein gemeinsames Ziel: zurück zu einem Kurs Richtung EU. Mehr als zehn Parteien treten an. Um die Fünf-Prozent-Hürde zu überwinden, haben sich einige zusammengeschlossen. Auch Droa! ist Teil eines solchen Bündnisses, der "Koalition des Wandels". "Diese Wahl ist insofern besonders, als dass wir mit einem sehr begrenzten und klaren Mandat antreten", sagt Khoshtaria. Dieses Mandat sei in der "Georgischen Charta" festgelegt, die kürzlich eine Vielzahl an Oppositionsparteien unterschrieben hat. Demnach wolle man nach einem möglichen Wahlsieg eine Übergangsregierung unterstützen. "Wir haben die Charta unterzeichnet, um neun Reformpunkte umzusetzen, die nötig sind, um mit der EU Verhandlungen aufzunehmen. Und um freie und faire Wahlen vorzubereiten."
In Georgien werden offenbar Wähler unter Druck gesetzt
Die Wahlen am 26. Oktober könnten tatsächlich nicht frei und fair ablaufen, befürchten Beobachter wie die International Society for Free and Fair Elections. Immer wieder erhalte die Organisation Berichte, dass der Georgische Traum versuche, Wähler unter Druck zu setzen. Zum Beispiel mit der Behauptung, man könne anhand der am Wahltag eingesetzten Geräte ermitteln, für welche Partei ein Wähler gestimmt hat. Außerdem würden Aktivisten der Regierungspartei zum Beispiel Tankgutscheine verteilen, im Austausch für Wählerstimmen.
Eine Woche vor der Wahl sind noch einmal Tausende Menschen auf die Straßen von Tiflis gegangen, um gegen die Regierung zu demonstrieren. Parteifahnen sieht man wenige, dafür ein Meer aus Europa- und Georgienflaggen.
"Es ist wichtig für uns, vor der Wahl deutlich zu machen, auf welcher Seite wir stehen", sagt Mariam, eine der Teilnehmerinnen, "wir wählen nicht Russland." Mariam ist 33, sie sagt, ihre Generation sei bereits dabei, Georgien zu verlassen. "Wir haben das Gefühl, wenn die anderen gewinnen, verlieren wir unser Land."
Dieser Beitrag entstand im Rahmen einer Recherchereise, die von n-ost, einem Netzwerk für Osteuropa-Berichterstattung, organisiert und von der "Erste Stiftung" gefördert wurde.