Leseprobe aus dem neuen Buch von Lilly Lindner "Du bist frei. Dein Körper gehört dir"

Mit sechs Jahren wurde Lilly Lindner vergewaltigt. Der Missbrauch prägte ihr Leben, schreibend verarbeitet sie, was ihr widerfahren ist. Der stern zeigt einen Auszug aus dem neuesten Buch.

Mit sechs Jahren wird Lilly Lindner von einem Nachbarn vergewaltigt. Der Missbrauch prägt ihr Leben. Sie beginnt, sich selbst zu verletzen, erkrankt an Magersucht, prostituiert sich irgendwann auch. Die Last, die seitdem auf ihrer Seele liegt, beginnt sie schreibend zu verarbeiten. In ihrem nun erschienenen Buch "Winterwassertief" erzählt sie, wie ihr erster Bucherfolg "Splitterfasernackt" ihr Leben verändert hat und was seitdem geschah. Der stern zeigt einen Auszug aus dem neuen Buch "Winterwassertief:

Am Abend vor Chase erstem Tag in der Schule saßen wir gemeinsam auf seinem bunten Spielteppich und taten so, als wäre alles wie immer. Ich schob Eisenbahnwaggons durch die Gegend, und Chase belud sie mit einem Gabelstapler. Dann schob ich sie in eine andere Gegend, und Chase entlud sie mit einem anderen Gabelstapler. Es war eines der besten Spiele, die ich kannte, weil Chase Spielzimmer so groß war, dass es ziemlich viele Stationen gab, und außerdem hatte er mehr Waggons, als ich zählen konnte. Und obwohl ich erst drei Jahre alt war, konnte ich schon ziemlich gut zählen, was wohl hauptsächlich daran lag, dass Chase seit meinem ersten Tag im Kindergarten mein bester Freund war und ich dementsprechend möglichst schnell laufen, sprechen und denken lernen musste, um wenigstens halbwegs mit ihm mithalten zu können.

Auszug aus:

Lilly Lindner: "Winterwassertief", Droemer & Knaur 2015, 368 Seiten, 12,99 Euro

Nachdem wir unsere vierte Verladestation erreicht hatten, ging die Tür auf, und Chase Mutter kam mit zwei Tassen heißem Marshmallow-Kakao zu uns herein. Sie strich mir über mein Haar, wie sie es so oft tat, weil sie das bei Chase nicht mehr machen durfte, seit er vier war, und warf anschließend einen stolzen Blick auf den blauen Schulrucksack, der neben dem Bett bereitstand. Chase wollte keinen Schulranzen wie die anderen Erstklässler tragen, er hatte ganz entsetzt geguckt, als seine Mutter ihn danach gefragt hatte.

"Ich brauche keinen Plastikkasten mit Trennfächern, um Ordnung zu halten. Mir reicht ein Rucksack!", hatte Chase sich beschwert, obwohl seine Mutter ihm vorgeschlagen hatte, den schönsten und größten von allen zu kaufen.

Und nun hatte er also einen blauen Rucksack und eine blaue Federmappe und einen blauen Radiergummi und war damit ziemlich zufrieden, wobei ihm die Farbe eigentlich egal war, weil er alle Farben mochte. "Freust du dich schon auf morgen?", hat Chase Mutter aufgeregt gefragt, während sie uns die dampfenden Becher und einen kleinen Teller voll mit Keksen auf dem Fußboden zurechtstellte.

"Damals dachte ich, sie wäre glücklich"

"Ja, ja", hat Chase beiläufig geantwortet und zwei Container von einem der Waggons geladen. "Aber ich glaube nicht, dass es ein guter Ort für mich sein wird." "Jeder Ort, an dem du bist, ist ein guter Ort", hat Chase Mutter daraufhin lächelnd erwidert und ihm einen Kuss auf die Wange gegeben. "Ich wecke dich morgen früh mit Blaubeerpfannkuchen, du wirst sehen, mein Schatz, es wird ein wunderschöner Tag." "Ich weiß", hat Chase gesagt und sich ihren Kuss mit dem Handrücken weggewischt, so wie er es immer tat. "Meine Tage sind meistens schön, nur manchmal etwas langweilig. Und du brauchst mich morgen übrigens nicht zur Schule zu bringen, ich finde den Weg alleine."

"Aber Chase, alle Eltern bringen ihre Kinder am ersten Tag in die Schule", hat seine Mutter erschrocken erwidert. "Du warst doch heute bei der Einschulung - das war der erste Tag", hat Chase daraufhin entgegnet. "Morgen ist nur ein anderer erster Tag, und du wirst nicht bei allen ersten Tagen in meinem Leben dabei sein können. Außerdem weiß ich, wie man über die Straße geht, ohne dabei überfahren zu werden, das hast du mir beigebracht, weißt du noch? Wir wohnen drei Blocks von der Schule entfernt. Ich gehe nicht verloren."

Da hat Chase Mutter geseufzt und sich eine Haarsträhne aus ihrem hübschen Gesicht gestrichen. "Du wirst so schnell erwachsen", hat sie schließlich mehr zu sich selbst als zu Chase gesagt. Dann hat sie uns noch eine Weile dabei zugesehen, wie wir die Eisenbahn von einer Gegend in die andere schoben und zwischendurch Marshmallows aus unseren heißen Kakaos angelten. Sie hat gelächelt. Gedankenversunken, aber nicht allzu tief.

Ja. Damals dachte ich, sie wäre glücklich, weil Chase einer der klügsten Jungen auf der Welt war und sich schon mit sechs Jahren ganz alleine Geschichten vorlesen konnte und niemanden brauchte, der ihn ins Bett brachte. Aber jetzt, im Rückblick, finde ich, dass sie traurig ausgesehen hat an diesem Abend, als ob sie weinen wollte. Und ich denke, vielleicht ist das so, wenn man dabei zusehen muss, wie ein Gehirn zu schnell für eine kleine Seele heranwächst. Denn es ist schön, Intelligenz zu besitzen. Aber es ist schwer, sie zu verwalten.

Und heute, über zwanzig Jahre später, an diesem Tag, an dem ich bei Chase im Wohnzimmer stehe und mich umsehe, zwischen all den lautlosen Splittern, frage ich mich, wie es wohl hätte sein können, wenn alles anders gewesen wäre. Wenn ich mit sechs Jahren nicht von meinem Nachbarn vergewaltigt worden wäre und mit siebzehn nicht von all diesen fremden Männern entführt, wenn ich nicht losgerannt wäre, um im Bordell abzutauchen und unter Wasser wieder auf.

"Also bin ich dein Mädchen?"

Aber was bringt es, zu zweifeln, an einer Geschichte, die längst durch die Zeit bestätigt worden ist? Was bringt es, die Schnitte auf seinem Arm zu zählen, wenn man immer noch Rasierklingen zu Hause hat? Und dort, auf dem Sofa neben Chase, ist ein Platz, der mir gehört. Ich lasse mich fallen, lehne meinen Kopf an seine Schulter und sage: "Du und ich, wir hatten in diesem Jahr schon zweiundachtzig Lesungen. Das ist mehr als doppelt so viel, wie ich wiege."

"Ach, Lilly", meint Chase und lässt das Drehbuch, in dem er gerade gelesen hat, auf den Couchtisch fallen. "Die Gegenwart sollte mehr wiegen als die Vergangenheit." Dann zieht er mich so dicht an sich heran, dass ich keine Luft mehr bekomme. "Au", sage ich. "Du zerdrückst meine Hüfte." Chase seufzt und verknotet mich irgendwie anders zwischen seinen viel zu großen Armen, die mir Angst machen, immer wieder, auch wenn er mir noch so oft erzählt, dass sie da seien, um mich zu beschützen. Aber so ist das mit Kondomen schließlich auch, bis sie reißen. "Autsch", sage ich. "Was denn jetzt?!", knurrt Chase. "Meine Rippen tun weh", erkläre ich und versuche mich freizustrampeln. "Lilly, du trittst mich", sagt Chase. "Entschuldigung", sage ich und trete weiter. "Himmel!", meint Chase. "Wenn du mich noch einmal trittst, habe ich Sex mit dir bis zum Morgengrauen."

Da halte ich totenstill und die Luft an. "Ach, mein Herz", murmelt Chase und vergräbt seinen Kopf in meinem Nacken. "Wann wirst du endlich begreifen, dass diese Zeiten vorbei sind. Du bist frei. Dein Körper gehört dir. Du entscheidest, wann und wie und wo und wie lange." "Oder überhaupt nicht", sage ich. "Auch das", bestätigt Chase, "ist ein Recht, das dir gehört." "Und was ist mit dir?", will ich wissen. "Ich kann warten", meint Chase. "Für immer?", hake ich nach. "Für im Meer", murmelt Chase. "Das weißt du doch - all die Gezeiten, die Tiefen, die Wellen, die hungrigen Haie, die verteerten Robben, die Bohrinseln. Alles das. Und du." "Bist du dir sicher?", will ich wissen. "Herrgott, Lilly! Was meinst du, warum ich seit einem Jahr mit dir durch Deutschland toure, von einer Schule zur nächsten? Meinst du etwa, es macht mich glücklich, an diesen bildungsverseuchten Unheilstätten abzuhängen und Literatur zu verbreiten, unter linguistisch verkümmerten Xboxfreaks, die Kafka für eine moderne Art zu kiffen halten? Nein, verdammt! Ich stehe dort an deiner Seite, weil es keinen besseren Standpunkt gibt, den ich vertreten könnte. Und ja, ich liebe es, dich aufzufangen, wenn du von Tischen springst und fällst und stolperst. Denn ich weiß, was es bedeutet, dabei sein zu dürfen, wenn du dem Schweigen widersprichst." "Also bin ich dein Mädchen?", frage ich. "Du bist meine Frau", erwidert Chase.

Aus Lilly Lindner: "Winterwassertief", Droemer & Knaur 2015, 368 Seiten, 12,99 Euro

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