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Von Cousine inspiriert Jungdesignerin macht Mode für Kleinwüchsige

Nachwuchsdesignerin Sema Gedik ist dabei, die erste Maßtabelle für kleinwüchsige Menschen zu erstellen. Ihr Ziel: coole Mode von der Stange für kleine Leute.
Von Irmgard Hochreither

Elektrobeats erklingen. Im Rhythmus der Musik laufen die acht Models über den 30 Meter langen Catwalk. Die Bewegungen unverkrampft und selbstverständlich, als wäre der Laufsteg ihr natürlicher Lebensraum. Blitzlichtgewitter, Scheinwerferlicht, Verbeugung, tosender Applaus. Showtime auf der Mercedes-Benz Fashion Week vergangenen Juli am Brandenburger Tor in Berlin. Eine professionelle Inszenierung, wie üblich im Modezirkus. Und doch ist dieser Auftritt für alle Beteiligten etwas ganz Besonderes. Eine Weltpremiere, könnte man sagen. Denn es staksen hier nicht langbeinige Zero-Size-Models über den Laufsteg. Zum ersten Mal wurde eine modische Kollektion von kleinwüchsigen Menschen für Kleinwüchsige präsentiert. Coole Jacken, Hosen, Kleider, Shirts und Hemden für Leute zwischen 70 und 150 Zentimetern.

"Auf Augenhöhe" hat Sema Gedik ihr ambitioniertes Projekt getauft. Noch heute erinnert sich die preisgekrönte Designstudentin, wie sie im Backstage-Bereich saß und die Show auf dem Monitor verfolgte. "Ich hatte Tränen in den Augen, weil ich so berührt war, wie toll die alle aussahen, wie stolz und selbstbewusst." Allein in Deutschland leben etwa 100.000 Kleinwüchsige.

Wer Sema Gedik kennenlernt, spürt schon nach den ersten Minuten des Gegsprächs: Diese Frau hat eine Mission. Große Pläne, ehrgeizige Ziele. "Die Kollektion habe ich im Rahmen meiner Bachelorarbeit entwickelt. Aber das ist ja erst der Anfang", sagt sie. Für ihre Masterprüfung, die sie im nächsten Jahr an der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Berlin ablegen will, steht ihr eine gewaltige Aufgabe bevor. "Um die weltweit erste Konfektionsgrößentabelle für Menschen mit Kleinwuchs erstellen zu können, sollte ich möglichst 1000 Kleinwüchsige im In- und Ausland vermessen haben." Bisher sind es erst 280. Je mehr Daten, desto besser die Passform. Dann müssen Schnittmuster angefertigt, Stoffe geordert, Produzenten und Investoren gefunden werden, um am Ende die Kleidung über einen noch zu entwickelnden Webshop zu den sehnsüchtig wartenden Kunden zu bringen.

Die ersten potenziellen Geldgeber haben bereits angeklopft. Es sieht so aus, als könne Sema Gedik ihr Credo tatsächlich Wirklichkeit werden lassen: "Ich will allen Menschen jenseits der Normgrößen in Zukunft endlich die Chance geben, Mode von der Stange zu kaufen, die passt." Die Jungdesignerin träumt von einem Rundum-sorglos-Angebot. Nicht nur die üblichen Outfits, sondern auch Schuhe, Handschuhe, Strumpfhosen – und Brautkleider. Sie habe es anfangs gar nicht fassen können, dass es zwar Mode für Dicke, für Lange, für Schwangere, ja sogar für Rollstuhlfahrer gebe, aber nichts für erwachsene Menschen unter 1,50 Metern. Die Industrie habe diese Personengruppe bisher einfach ignoriert. Das erkläre auch die große Resonanz nach der Fashion- Week-Präsentation.

Anfragen aus den USA

"Ich habe aus dem europäischen Ausland, ja selbst aus den USA, ganz viele Anfragen bekommen, ob und wo man meine Kleider kaufen kann." Cem ist einer der Menschen, denen Gedik das Leben erleichtern will. Hypochondroplasie heißt der medizinische Fachbegriff für die Körperform des 28-jährigen Berliners. Wie die Achondroplasie, die ebenfalls durch eine Genmutation verursacht wird, führt dieser Defekt zu einem verminderten Längenwachstum. Einer der berühmtesten Träger der Achondroplasie ist der Superstar aus der Erfolgsserie "Game of Thrones": Peter Dinklage.

Cem arbeitet in der Verwaltung eines Berliner Sozialamts. "Mit meinen 1,38 Metern", sagt er, "gehöre ich zu den Großen unter den Kleinen." Menschen mit Hypochondroplasie haben einen etwas gestreckteren und besser proportionierten Körper als die von Achondroplasie Betroffenen. Eine Therapie gegen diesen genetisch bedingten Kleinwuchs gibt es bisher nicht. Doch vom fehlenden Längenwachstum abgesehen unterscheiden sich Cem und seine Leidensgenossen nicht von uns normal großen Durchschnittsbürgern. Weder in der Lebenserwartung noch in der Verteilung der Intelligenz. Kleinwüchsige fühlen sich nicht behindert und auch nicht krank. Allein die Alltagsdiskriminierung macht für sie den Unterschied.

Die Welt ist für Große konzipiert – vom Klingelknopf bis zur Einbauküche. Und während Shoppen für die meisten Menschen ein Freizeitvergnügen ist, bedeutet es für Normabweichler wie Cem die Hölle. Ein Spießrutenlauf durch die Kinderabteilungen der Warenhäuser mit anschließendem Gang zum Maßschneider. Erniedrigend, zeitraubend und teuer. "Ich will gut aussehen, ist doch klar", sagt der Berliner, der in seiner Freizeit als Fußball-Schiedsrichter Kreisligaspiele pfeift. Dann fügt er zornig hinzu: "Als erwachsener Mann in albern bedruckten Kinderklamotten rumzulaufen ... das geht doch gar nicht."

Seit 2013 ist Cem Teil von Sema Gediks Kern-Team, kümmert sich um den Webauftritt, ums Social Network, steht nimmermüde für die zahllosen Anproben zur Verfügung, ist Ratgeber und guter Freund. Sollte es richtig losgehen mit dem Verkauf der Kollektionen, würde er für einen "Auf Augenhöhe"-Arbeitsplatz sofort seinen Verwaltungsjob hinschmeißen. Doch noch ist es nicht so weit, und er dient weiter geduldig als Fitting-Modell.

Selma Gedik ist Perfektionistin, derzeit tüftelt sie daran, die richtige Passform für das Sakko zu finden. "Ich habe bestimmt schon 50 Anproben gemacht. So ein Sakko ist ein Kunstwerk, das sich aus ganz vielen Einzelteilen zusammensetzt." Die ersten Schnitte saßen überhaupt nicht, obwohl Gedik sie mit dem Körperscanner errechnet hatte. "Das Wichtigste war, die Körperform zu verstehen. Ich musste mein Auge und meinen Kopf komplett neu auf diese Proportionen einstellen."

Da es keine passenden Schneiderpuppen gab, hat sie die Figurinen aus Ton und Gips selbst hergestellt. An den Puppen lassen sich auf den ersten Blick die Herausforderungen für die Designerin erkennen. Die verkürzten Arme und Beine, der verhältnismäßig große Gesäßumfang, ausgeprägte Waden, kräftige Knie und häufig auch ein Hohlkreuz machen die Schnittführung kompliziert. Normalerweise reichen drei Fittings, sagt Sema Gedik, "aber ich hatte vor der Modenschau mindestens 15 Anproben pro Person. Als ich nach dem vierten Mal immer noch Fehler sah, habe ich mich schon gefragt, ob ich die Kraft habe, weiterzumachen. Aber alle haben so viel Hoffnung in mich gesetzt. Die wollte ich auf gar keinen Fall enttäuschen."

Zum Glück gehört Sema Gedik zur Marathon-Fraktion. Aufgeben ist nicht vorgesehen. Schon immer habe sie sich gefragt, wie sich Menschen mit Behinderung in unserer Gesellschaft fühlen. Vor der Entscheidung, Modedesign zu studieren, stand für sie bereits fest, dass sie ihre Arbeit mit sozialen Aspekten verbinden möchte. Ganz egal, was sie macht. "Und mit meiner Kollektion wollte ich bewusst eine Arbeit abliefern, die nicht nur die Oberflächenästhetik bedient, sondern einen Sinn ergibt. Ich wollte zeigen, dass ich mit all dem, was ich gelernt habe, etwas bewirken kann. Auch in einer Branche, die normalerweise dafür steht, nur den schönen Schein zu feiern."

"Meine kleinwüchsige Cousine hat mich inspiriert"

Pausenlos sprudeln die Ideen. „Es hört nie auf“, beschreibt sie die atemlose Reise zu den immer neu gesteckten Zielen. Und deshalb müsse sie manchmal die Notbremse ziehen. "Weiterentwicklung", erklärt Sema Gedik, "heißt ja auch, die Gedanken auf das Wesentliche zu reduzieren." Man müsse lernen, den vielen Ideen Struktur zu geben. Und woher kommt die Inspiration? Ein kleines Lächeln fliegt über ihr Gesicht. "Ich habe eine kleinwüchsige Cousine. Funda lebt in der Türkei. Sie liebt schöne Kleider. Und unsere Gespräche über Mode und die Probleme, hübsche, modische Sachen zu bekommen, haben mich auf jeden Fall inspiriert." Zudem habe sie in ihrem Studium gelernt, sich ständig zu hinterfragen. "Was mag ich und warum? Welche Bücher, welche Gedichte, welche Bilder interessieren mich?" Jede Wahrnehmung fließe in die Produkte, die sie kreiert. "Und wenn man Glück hat, erkennt man am Ende seine eigene Inspiration wieder."

Auch die Erfahrungen, die sie in ihrem Elternhaus machte, sind nicht ganz unschuldig an ihrer Berufswahl. Das Mädchen mit den türkischen Wurzeln ist in Helmstedt geboren und als Mittlere von fünf Schwestern aufgewachsen. Ihre Mutter ist Schneiderin, und Sema durfte ihr schon als kleines Mädchen zur Hand gehen. Das erste selbst genähte Teil war ein Brautkleid aus Taschentüchern für ihre Barbie. Als sie sich dann nach dem Abitur dafür entschied, Modedesign in Berlin zu studieren, äußerten die Eltern Bedenken: Ist das nicht brotlos? Willst du nicht lieber auf Nummer sicher gehen? Jura, Medizin, Lehramt? Aber Sema zeigte schon damals, dass sie zwei wesentliche Eigenschaften für das Modebusiness mitbringt: Willensstärke und Durchsetzungskraft.

Nun sitzt die junge Frau auf gepackten Koffern, startklar für ein neues Abenteuer. Nach Studienaufenthalten in Amsterdam und Istanbul schließt sich ein Auslandsstudienjahr an der Universität in Santiago de Chile an. "Ich war noch nie in Südamerika und bin total aufgeregt."

In Chile, so versichert Sema Gedik, werde die Vermessung kleinwüchsiger Menschen für die Modewelt weitergehen. Und auch in Berlin hält das eingeschworene Team das Projekt am Laufen. Damit in naher Zukunft endlich alle großen Kleinen – wie jeder Normalbürger – ohne Angstschweiß auf der Stirn shoppen gehen können.

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