„Nicht rennen!“ Ich kann diesen Satz nicht mehr hören. In der Schule, im Schwimmbad, im Park, im Supermarkt – ständig rufen das Mütter, Väter, Lehrer, Omas oder Opas Kindern hinterher. So ist es inzwischen zum Sound einer ganzen Generation geworden. Als wäre Rennen etwas gefährliches.
Wie sollen sich Kinder den ausprobieren, die Grenzen ihres Körpers spüren, wenn sie ständig gebremst werden? Wie oft haben wir uns als Kinder in den 70er oder 80 Jahren die Beine blutig geschlagen? Wie viele Hosen mussten dran glauben? Ich habe eine Narbe an meiner Lippe, weil ich beim Fangen spielen über den Haufen gerannt wurde. Und zu jeder Narbe an meinen Beinen kann ich eine kleine Geschichte erzählen. Für mich sind sie alle Zeichen von Selbstbewusstsein und Freiheit.
Nein, früher war nicht alles besser. Aber das schon. Heute leben Kinder in einer Vollkasko-Gesellschaft. Viele werden in Watte gepackt, als würden sie sich gleich den Hals brechen, wenn sie mal zu schnell rennen. Jacken haben keine Schnüre mehr, weil sich ein Kind damit strangulieren kann. Ohne Helm fährt kein Kind mehr Fahrrad. Wir hatten Knieschützer zum Skaten. Heute trägt man Handgelenk, Ellenbogen und Knie-Schoner. Und als mein Sohn mit sechs Jahren bei einem Vier-Kilometer Lauf startete, musste ich mir anhören: Ist das nicht viel zu anstrengend?
Nein, ist es nicht. Kinder wissen sehr gut, was sie können oder was nicht. Zumindest wenn man sie lässt. Kinder müssen Risiken kennen lernen und müssen lernen Ängste zu überwinden. Nur so lernen sie, sich selbst einzuschätzen. Wenn wir ihnen ständig hinterher rufen, die oder jenes ist gefährlich, wie sollen sie denn jemals Spaß an Bewegung bekommen? Wir sind zu einer Gesellschaft geworden, in der jedes wilde Kind als auffällig gilt. Wer nicht angepasst ist, hat gleich ADHS. Immer seltener gibt es Räume und Momente in denen Kinder sich einfach mal austoben können. Ungehemmt sein dürfen.
Die USA treiben das Thema natürlich auf die Spitze. Hier ist es inzwischen so weit, dass Spielplätze gebaut werden, die zwar absolut sicher sind – aber auch total langweilig. Das wurde inzwischen wissenschaftlich belegt. Und die Experten urteilen: Zum Groß werden gehört einfach dazu, sich auch mal zu verletzen. Kein Grund zur Sorge, denn Spielplatzverletzungen sind nahezu nie dauerhaft. Und Kinder, die bevor sie neun Jahre alt sind, sich beim Klettern verletzen, haben als Erwachsene viel seltener Höhenangst.
Wenn wir ständig unsere Ängste auf unsere Kinder übertragen, werden sie später zu ängstlichen Menschen. Zeit, uns mal selbst zu überprüfen. Und mal ehrlich: Wir sind doch auch durch den Supermarkt, die Schule oder das Schwimmbad gerannt – oder? Und sind auch hingefallen. Ja, das tat weh, aber nach ein paar Minuten war alles wieder gut. Und weiter ging es. Aus heutiger Sicht eigentlich ein Wunder, dass wir Kinder der 70er oder 80er Jahre unsere Kindheit überlebt haben.
Es gab keine Sicherheitsgurte im Auto, wir haben mit Dartpfeilen mit echten Spitzen gespielt, Fahrradhelme kannte noch keiner, wir durften alleine auf der Straße spielen, wurden im Kinderwagen vorm Supermarkt stehen gelassen und waren fast alle Passivraucher. Ich finde, im Verhältnis dazu sollte ein bisschen Rennen kein echtes Problem sein. Oder?