Mein Kind möchte sich umbringen. Ihre Gedanken kreisen den ganzen Tag um nichts anderes, sagt sie. Morgens, wenn sie im Bett liegt und Mühe hat, überhaupt die Augen zu öffnen. Mittags, wenn sie Hunger hat, aber nicht zum Supermarkt gehen kann, weil Menschen ihr unglaubliche Angst machen. Abends, wenn sie von der Psychologin kommt und so aufgewühlt ist, dass sie eine Klinge nimmt, um sich die Arme zu zerschneiden. Nachts, wenn sie mit ihrem Welpen rausgeht. Der Welpe, der doch ihrem Leben endlich wieder Fröhlichkeit geben soll.
Mein Kind ist 20 und meine Stieftochter. Sie tritt in mein Leben, als sie eineinhalb ist. Und sie ist neben meinen drei eigenen Kindern das Beste, das mir je passiert ist.
Der Arm meines Kindes gleicht einem Schlachtfeld
Ein freches, keckes, kuscheliges Wesen. Sie liebt Croissants mit Krabbensalat. Alles an ihr ist weich und warm und duftet. Sie fährt auf dem Gepäckträger meines klapprigen Fahrrads mit. Ohne Licht, ohne Bremsen, ohne Helm. Und einen Wimpernschlag weiter sattelt auf ihrem kleinen, stolzen Rücken ein riesiger Schulranzen.
Wenn sie am Wochenende da ist, lesen wir Harry Potter und glotzen fern. Mit Unmengen an Chips und Schoko-Crossies. Wir lernen Englisch, Mathe, Geschichte. Wir beten abends vor dem Einschlafen und "backen Brezel", unser Kitzelspiel.
Später kommt sie mit Freundinnen. Einmal leeren die beiden mein sündhaft teures Shampoo bei einer Duschparty. Ich bin richtig sauer. Nach einer Viertelstunde muss ich lachen.
Heute gleicht der Arm meines Kindes einem Schlachtfeld. Abends nimmt sie wohl oft eine Rasierklinge und schneidet sich damit tief in die Unterarme. Dazu geht sie ins Bad und dreht den Schlüssel um, während ihre Mitbewohnerin im Nebenzimmer sitzt. Der Druck muss raus, sagt sie.
Die Depression hat sie überrollt
Wann ihr Leben umgekippt ist? Ich weiß es nicht. Wann die Emotionen übergeschwappt, übergeschnappt sind? Keine Ahnung.
In der Pubertät sehen wir uns selten. Da ist noch ihre eigentliche Familie. Heile Welt. Ja, sie wird stiller. Sie bringt keine Freundin mehr mit. Aber sie mag es, bei uns zu sein. Sie geht für einige Zeit nach England, kommt zurück und beginnt eine Ausbildung zur Physiotherapeutin. Der geniale Job für sie, ihre Interessen, ihre Art. Und während sie den Körper anderer Menschen wieder heil macht, wird ihre Seele immer kränker.
Im vergangenen Frühling muss sie plötzlich in die Klinik. Die Traurigkeit hat sie überrollt. Die Antriebslosigkeit. Die Sozialangst. Sie bleibt fünf Monate. In dieser Zeit hortet sie das erste Mal Tabletten. Und diese junge, bildhübsche Frau, der Entscheidungen seit langer Zeit so schwer fallen, entscheidet, ihrem Leben ein Ende zu setzen.
Es passiert mehrmals. Für mich: völlig aus dem Nichts. Für sie: die zwingend logische Folge ihres Gedankenkarusells. Pulsadern aufschlitzen, dutzende Tabletten auf einmal nehmen. Das volle Programm. Druck. Schmerz. Blut. Krankenwagen. Geschlossene. Richter. Raus.
Medikamente, Psychotherapie, der Hund - nichts hilft
Warum? Warum nur? Es hat einige Zeit gedauert, bis ich verstanden habe, dass irgendwas bei ihr wohl durchgeknallt ist. Welch' schräges Wort. Ich weiß bis heute nicht was und warum. Und, so absurd es klingt, es ist gerade auch gar nicht wichtig. Die Medikamente können es nicht ändern. Die Psychologin kann es nicht ändern. Der Hund kann es nicht ändern. Und ich, ich kann es auch nicht ändern. Aber ich muss und möchte damit leben. Die Krankheit ist ein Teil von ihr. Es ist, wie es ist. Sie ist, wie sie ist. Und egal, wie wütend ich ihre Krankheit aus ihr herausprügeln möchte, sie ist mein Kind, und sie ist ein tolles Kind. Sie ist jetzt fast 21 Jahre alt.
Also leben wir nun gemeinsam damit. Einmal pro Woche sehen wir uns. Wir kochen, erzählen, lachen. Gestern standen wir an der Kasse im Supermarkt. In ihrem Korb Veggi-Bällchen, Tomaten und Gilette Venus. Es hat einen Moment gedauert, bis ich geschnallt habe, was diese Rasierklingen sollen. Sie sagte nur trocken: "Sorry." Meine Atmung setzte aus, meine Ohren rauschten, und ich brauchte den Nachhauseweg, um wieder Haltung anzunehmen. Zu Hause gab's dann Miso-Spaghetti mit drei Zutaten. Sie hat wie ausgehungert reingehauen. Verdammt noch mal, das macht doch keine, die sich umbringen will. So lacht doch keine, die sich umbringen will. So redet doch keine, die sich umbringen will.
Es war ein gemütlicher Abend. Ich habe sie nach Hause gefahren, wir haben uns umarmt und uns wieder verabredet. Als ich ins Bett gehe, der letzte Blick auf Twitter. Ihr Twitter-Account poppt auf. Auf dem sie täglich ihr Leid stumm in die Welt schreit. Um 21:03 Uhr hat sie einen Tweet abgesetzt. "Ab wann ist es eigentlich okay, den Kampf aufzugeben. Mit all den verschissenen Medikamenten, die eh nichts bringen. Bin müde. #depression #ritzen #suicide." Zu diesem Zeitpunkt saß sie mir direkt gegenüber. Wir haben übers Heiraten gescherzt. Danach hat sie sich das dritte Mal Nudeln genommen.
Unsere Autorin möchte anonym bleiben.
Sie haben suizidale Gedanken? Hilfe bietet die Telefonseelsorge. Sie ist anonym, kostenlos und rund um die Uhr unter 0 800 / 111 0 111 und 0 800 / 111 0 222 erreichbar. Auch eine Beratung über E-Mail ist möglich. Eine Liste mit bundesweiten Hilfsstellen findet sich auf der Seite der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention.
Für Kinder und Jugendliche steht auch die Nummer gegen Kummer von Montag bis Samstag jeweils von 14 bis 20 Uhr zur Verfügung - die Nummer lautet 116 11.