Drei Familien sitzen zusammen am Tisch. Sie wollen, wie sie es häufig tun, gemütlich zu Abend essen. Dann passiert etwas, das das Leben der Familie Ensch für Jahre verändert: Die Kleinste der Familie, damals drei Jahre alt, stößt an den Tisch, der Wok mit heißem Wasser, Gemüse und Fleisch kippt um und ergießt sich über die sechsjährige Larissa.
Geistesgegenwärtig tritt der ältere Bruder Larissas Stuhl um. Dadurch fließt nur ein Teil der heißen Brühe über Brust, Bauch und einen Arm des Mädchens. Mutter und Vater nehmen das schreiende Kind, reißen ihm schnell die nasse, heiße Kleidung vom Leib und halten es zur Kühlung unter die kalte Dusche. Die anderen Gäste wischen die Überreste des Abendessens auf. Sie wollen noch einmal anfangen zu kochen - sie schätzen die Verletzung des Kindes völlig falsch ein. "Alle sagten: So schlimm wird es nicht sein. Aber ich meinte nur: Ruft den Krankenwagen, die Haut hängt hier schon runter", erinnert sich Larissas Mutter Michaela Ensch.
Der Notarzt betäubt das sechsjährige Mädchen. Er bereitet alles vor, damit Larissa im Krankenhaus sofort operiert werden kann. Eigentlich müsste das Kind vom Wohnort an der Mosel in eine Spezialklinik nach Ludwigshafen geflogen werden. Doch das Wetter lässt den Start des Hubschraubers nicht zu. Also fährt der Notarztwagen mit Michaela Ensch und ihrem Kind ins Krankenhaus nach Trier. Auf dem Weg informiert sie der Arzt darüber, was jetzt auf sie und ihre Tochter zukommen wird. "Ich war immer noch der Meinung, wir fahren in das Krankenhaus, sie bekommt einen Verband und wir nehmen sie wieder mit nach Hause. Es war mir die gesamte Zeit über nicht bewusst, dass unser Kind in Lebensgefahr schwebte", sagt Michaela Ensch.
Im Krankenhaus bürsten Ärzte zunächst die verbrannte Haut ab. Das Kind ist dabei betäubt, die Prozedur ist extrem schmerzhaft. Die Mediziner müssen beurteilen, welche Stellen eventuell von alleine wieder zuwachsen und wo so schwere Verbrennungen vorliegen, dass Haut transplantiert werden muss. Bei Larissa, so ihr Urteil, ist eine Transplantation notwendig.
Nach dem Abbürsten trocknen die Wunden. Die offene Haut ist sehr anfällig für Infektionen, daher muss das Mädchen in Quarantäne. Das bedeutet: Sie muss in ihrem Zimmer bleiben, darf keinen Besuch empfangen. Nur die Mutter darf mit in ihr Zimmer. Das erhöht zwar das Risiko einer Ansteckung. Damit das Kind nicht mit seinen Schmerzen und Ängsten allein ist, nehmen die Ärzte das in Kauf.
Zwei Jahre im Kompressionsanzug
Die auf die Wunden transplantierte Haut stammt vom Kopf. Denn dort wachsen Haare über die Narben, sie sind also später verborgen. Vor der OP wird Larissas Kopf kahl rasiert. Dann "schälen" die Ärzte eine dünne Schicht "Spalthaut" vom Kopf und verpflanzen sie auf die Wunden. Das Mädchen hat Glück. Von ihrem Kopf kann genug Haut entnommen werden, um alle Wunden abzudecken. Bei noch größeren Verbrennungen schneiden die Ärzte aus der Kopfhaut Streifen und formen ein Netz, das auf die Wunden gelegt wird. So können mit 5 Quadratzentimetern Kopfhaut 25 Quadratzentimeter Wunde abgedeckt werden.
Nicht nur die Operation verläuft unter Vollnarkose, auch für den regelmäßigen Wechsel des Wundverbands wird Larissa vollständig betäubt. Zum einen ist dies sehr schmerzhaft. Zum anderen muss das Kind absolut still liegen bleiben, sonst reißt die frisch angewachsene Haut beim Verbandswechsel durch plötzliche Bewegungen wieder ab.
Der Heilungsprozess ist längst nicht abgeschlossen: Damit sich keine dicken Narben bilden, trägt das Mädchen einen Kompressionsanzug. Der sieht aus wie lange Unterwäsche, liegt aber eng an. Der Anzug reduziert den Juckreiz, vermittelt Schutz, so dass Larissa ihn sogar angenehm findet. Sie trägt den Kompressionsanzug 23 Stunden am Tag - zwei Jahre lang. Nur einmal am Tag wird das Hemd ausgezogen. Dann wird das Kind gewaschen und die Wunden werden dick mit Creme eingeschmiert.
Leben mit der Schuld
Die medizinische Versorgung eines verbrannten Kindes ist nur die eine Seite. Genauso wichtig ist oft die psychologische Betreuung, sagt Adelheid Gottwald von "Paulinchen", einer Initiative für brandverletzte Kinder. Vor allem, wenn die Verbrühung oder Verbrennung ein anderes Familienmitglied verursacht hat. "Dann liegt die Schuld komplett in der Familie. Das ist eine schwierige Situation." Larissas Familie hat der kleinen Schwester nie die Schuld an dem Unfall gegeben. Genauso gut hätte man denjenigen beschuldigen können, der den Wok auf den Tisch gestellt hat. Oder denjenigen, der diesen wackligen Tisch zum Kochen ausgewählt hat. Larissas Unfall gehört zur Familiengeschichte. Alle können darüber sprechen. Das Unglück hat die Familie psychologisch nicht zerstört. Auf dem Wohnzimmertisch der Familie Ensch liegt ein Fotoalbum mit Bildern aus dem Krankenhaus. "Ich bin halt ein Unglücksvogel," sagt Larissa, wenn man sie nach dem Unfall fragt.
Sechs Jahre ist der Unfall nun her. Larissa ist mittlerweile zwölf Jahre alt. "Ihre Narben versteckt sie nicht", sagt ihre Mutter Michaela Ensch. "Den Arm zeigt sie eh, damit hat sie gar keine Probleme, aber sie zeigt auch sehr viel vom Dekolleté, sie trägt sehr tief ausgeschnittene T-Shirts, gegen meinen Willen." Larissa und ihre Familie haben das Unglück offensichtlich gut überstanden.