Der Schrecken schleicht sich wie ein böser Traum in das Leben von Annett Leitner. Kurz vor Mitternacht wacht sie neben ihrem Mann auf. Sie zittert, ringt nach Luft, Hände und Füße sind eiskalt. "Jetzt wirst du sterben", denkt sie. Sie weckt ihren Mann: "Hagen, mir ist nicht gut." Annett Leitner geht die Treppe runter, aber sie hat Angst umzukippen. Sie legt sich in den Flur. Es wird nicht besser. Sie reißt die Haustür auf, ringt um Luft, aber sie kriegt keine Luft. Sie greift nach Gegenständen, aber die Hände gehorchen nicht, sind wie gelähmt. Ihr Mann Hagen kommt herunter, fragt, was los ist. "Ich brauche Hilfe, jetzt", sagt Annett Leitner. Ihr Mann steht neben ihr. Ratlos. Hilflos. Ihr Herz rast, aber irgendwie schafft sie es, auf dem Boden liegend die Nummer des Notarztes zu wählen.
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Die Ärztin sagt ihr am Telefon: "Da müssen Sie mal vorbeikommen." Im Nachthemd schleppt sich Annett Leitner zum Auto, ihr Mann fährt. Die Kinder lassen sie schlafen. Die Ärztin stellt keine Fragen, schiebt nur das Nachthemd hoch, drückt eine Beruhigungsspritze aus und schickt die Leitners wieder nach Hause.
Annett, 36, und Hagen, 38, haben sich ein kleines Idyll geschaffen. Zwei Jahre lang haben sie an ihrem Haus in der gediegenen Neubausiedlung im sächsischen Oberlichtenau gebaut. Sie sitzen an einem gemütlichen Holztisch im Wohnzimmer, zwischendurch steht Hagen Leitner auf und wirft ein Holzscheit auf das Feuer im Kamin. Oben beschäftigen sich die Kinder Nadine, 16, und Fabian, 8. "Ich glaub schon, dass ich lustig war und unternehmungslustig", erzählt Annett Leitner, dann schiebt sie ein "oder?" hinterher und sieht ihren Mann fragend an. Der nickt. "Ich habe gar nicht verstanden, warum das eigentlich passiert ist", sagt Annett Leitner. "Man hat doch so viel geschafft, es war doch nie was."
Na ja, da waren früher einige Panikattacken gewesen. Aber die hatte Annett Leitner nicht ernst genommen, stattdessen einfach weitergemacht. Immer lustig, gar nicht traurig sein: So sah sie sich selbst bis zu dieser Sommernacht vor drei Jahren.
“Ich wollte perfekt sein“
Annett Leitner hat immer funktioniert. Im Haushalt der Eltern musste sie früh Verantwortung übernehmen. Als Arzthelferin machte sie Überstunden, wenn ihr Chef sie darum bat. Auch wenn es ihr schlecht ging. "Ich bin jemand, der nicht nein sagen kann", sagt Annett Leitner, "ich wollte perfekt sein."
Im Beruf, in der Familie: Annett Leitner ist für alle da. Für ihre Kinder, für ihren Mann, für ihre beste Freundin Ute Jana. "Sie hat sich immer meine Probleme angehört", erinnert sich Ute Jana, "ich hab sie immer als sehr stark empfunden. Auf einmal brauchte sie meine Hilfe."
Nach der ersten schlimmen Nacht folgen weitere. Es läuft immer gleich ab: Nach einer Stunde Schlaf schreckt Annett Leitner hoch. Kalter Schweiß, Zittern, Herzrasen, Panik. Noch dreimal rufen die Leitners in den kommenden Wochen nachts den Notarzt. Keiner kommt. Am Ende fahren sie nicht mal mehr hin. Morgens, nach einer weiteren Nacht ohne Schlaf und voller Sorge, flüchtet sich Annett Leitner in den Tag. Zu einem Arzt geht sie nicht, weil ihr Hausarzt gleichzeitig ihr Chef ist. Stattdessen stürzt sie sich in die Arbeit. Ihre Freundin merkt, dass sie sich zurückzieht. "Da ist nichts", wiegelt Annett Leitner ab.
Sie will funktionieren. Aber es funktioniert immer weniger. Beim Autofahren überfällt sie Angst. Dann reißt sie die Beifahrertür auf, saugt gierig nach Luft, das erleichtert sie. Bis zum nächsten Angstschub. Sie meidet es, zu Hause aus dem Fenster ihres Schlafzimmers zu gucken. Sie kann die Höhe nicht ertragen.
Das Herz rast ständig
Aber inzwischen ist da mehr als nur die Angst. Annett Leitner denkt, dass sie etwas am Herzen hat, weil es ständig rast. Sie klagt über Rückenschmerzen. Der Schrecken kriecht jetzt auch in die Tage. Wenn die Kinder kuscheln wollen, schickt sie sie weg. Bloß nicht nah ran, denkt sie, ja nicht anfassen. Immer häufiger schreit Annett Leitner ihre Kinder an. Grundlos. Manchmal reicht es, wenn sie mit dem Geschirr klappern. "Mich hat die Fliege an der Wand gestört", erinnert sie sich. Ihr Mann versucht, die Kinder von ihr abzulenken. Wenn Fabian fragt, warum die Mama so komisch ist, sagt er: "Das wird wieder besser."
Aber auch er merkt, dass sie sich verändert. Sie duscht nicht mehr so häufig. Wenn er Nähe sucht, weist sie ihn ab. "Abends war sie gereizt, hat fast gar nichts gegessen und war lustlos", sagt Hagen Leitner, "man musste sehr aufpassen, was man sagt."
Annett Leitner hat bis zu diesem Zeitpunkt niemandem von ihren Qualen erzählt. Hagen Leitner weiß nicht weiter. Er ruft bei ihrer besten Freundin an. Erzählt ihr von den Nächten, von der Panik, von seiner Hilflosigkeit. Heute sagt Ute Jana: "Ich denke, sie hat sich geschämt. Wenn man Kinder hat, sind da große Ansprüche. Sie hat gedacht: Ich muss doch für die Kinder da sein."
Ute Jana hilft jetzt aus, wenn Hagen Leitner mal nicht da ist. Sie leistet ihrer Freundin Gesellschaft. Allein zu sein kann Annett Leitner nicht mehr aushalten. Sie erzählt ihrer Freundin dann von dem Kribbeln der Hände, als krabbelten Tausende Ameisen hindurch. Sie hört auf, fernzusehen oder die Zeitung zu lesen. Alles scheint ihr bedrohlich. Wenn sie den Balkon sieht, denkt sie: springen. Geht sie über eine Brücke, denkt sie: rüber. Dann hört vielleicht diese Beklemmung auf, die sie von innen betäubt. "Ein Gefühl, als hätte man kein Gefühl mehr", sagt Annett Leitner, "man denkt, wenn man jetzt springt, ist das Gefühl weg, oder es ist Hilfe da."
Sie wollte vom Balkon springen
Vier Wochen lang geht das so. Jeder Tag ist schlimmer als der vorige. Ute Jana findet ihre Freundin einmal schweißgebadet und verheult auf dem Bett, während Annett Leitner mit der Telefonseelsorge telefoniert. Der Seelsorger hat sie davon abgehalten, vom Balkon zu springen.
Das Letzte, was noch funktioniert, ist die Arbeit. Bis zu dem Freitag, als Annett Leitner kurz vor Feierabend zusammenklappt. Noch immer sagt sie ihrem Chef nicht die Wahrheit. "Vielleicht wollte ich nicht als Versager dastehen", sagt sie, "das ist für mich sowieso etwas ganz Schlimmes, zu sagen: Ich kann nicht mehr."
In der kommenden Nacht fährt ihr Mann sie wieder zur Notärztin. Die stellt nur wenige Fragen. Dann nennt sie die Krankheit als Erste beim Namen: "Sie haben eine Depression." Davon hat Annett Leitner als Arzthelferin immer wieder gehört: "Da dachte man: Na ja, was haben denn die schon?" Die Neurologin sorgt für eine Einweisung in die psychiatrische Klinik nach Arnsdorf.
Annett und Hagen Leitner leben in einem kleinen Dorf mit einer langen Hauptstraße, an der links und rechts die Häuser stehen. Eine kleine Welt. Wer hier das Wort "Arnsdorf" hört, denkt an Verrückte. Als Hagen Leitner erfährt, dass seine Frau nach Arnsdorf gebracht wird, denkt er: "Um Gottes willen."
Medikamente helfen durchzuschlafen
Die Klinik in Arnsdorf hat eine eigene Station für Depressive. Annett Leitner bekommt Anxiolytika gegen die Angst und Antidepressiva gegen die Depression. Sie ist völlig entkräftet. Vier Wochen gab es keine Nacht mit ruhigem Schlaf. Jetzt helfen die Medikamente, durchzuschlafen.
Hagen Leitner führt am ersten Tag in der Klinik ein langes Gespräch mit einer Ärztin. Er erfährt, dass viele Depressionen mit Suizid enden, wenn sie nicht richtig behandelt werden. Aber die Ärztin macht ihm auch Mut. Es brauche Zeit, aber seine Frau könne wieder genauso werden wie vorher. Hagen Leitner merkt sich: "Wichtig ist, keinen Druck auszuüben."
Annett Leitner lernt auf der Station, wieder den Alltag anzugehen. Sie wird eingeteilt zum Küchendienst, Blumendienst, Tischdienst. Zu Hause übernimmt Hagen Leitner die Aufgaben seiner Frau. Der damals arbeitslose Maurer muss dafür ein Jobangebot in einer anderen Stadt ausschlagen. Stattdessen macht er jetzt die Wäsche, bügelt, kauft ein. Manche dieser Aufgaben erledigt er zum ersten Mal in seinem Leben. Die klassische Rollenverteilung der Familie wird aufgemischt. "Ich war Mutter und Vater", sagt er über diese Zeit.
Die Kinder vermissen die Mutter. Nadine ist in der Pubertät, ihr fehlt die Mama zum Reden. "Die Tochter von Annett ist dadurch sehr schnell erwachsen geworden", sagt Ute Jana.
Gefühle wie vereist
Die Antidepressiva beginnen zu wirken, die Symptome werden schwächer. Annett Leitner kann sich sogar wieder freuen, als sie im Krankenhaus ihren Geburtstag feiert. Endlich mal muss sie keine Kuchen backen, Tische decken, Gäste versorgen. Nur ihre Gefühle sind noch wie vereist.
Die Kinder besuchen sie im Krankenhaus, aber das ist ihr zu viel. Sie bittet ihren Mann, allein zu kommen. Auch der Körperkontakt zu ihm bleibt für sie schwierig. "Im Krankenhaus hab ich schon mitbekommen: nicht zu nahe kommen", erinnert sich Hagen Leitner. Er hat gelesen, dass eine Depression lange dauert. Manchmal denkt er: Es dauert aber sehr, sehr lange. Auch Annett Leitner leidet darunter. "Das war das Schlimmste", sagt sie heute, "man zweifelt sehr an der Liebe, hofft, dass das wieder besser wird."
Nach einem Vierteljahr im Krankenhaus, am Ende in der Tagesklinik, ist Annett Leitner wieder zu Hause, aber noch nicht wieder im Lot. Nach wie vor fällt es ihr schwer, ihre eigenen Bedürfnisse ernst zu nehmen. Auch die Ängste sind noch da. Im Kino, im Auto, in hohen Gebäuden und auf Brücken erleidet sie Panikattacken. Sie beginnt eine kognitive Verhaltenstherapie bei der Institutsambulanz für Psychotherapie der TU Dresden. Die Diagnose lautet: mittelgradige depressive Störung sowie Panikstörung mit Agoraphobie, also Platzangst.
Zu Beginn der Therapie erfährt Annett Leitner, was ihre Depression ausgelöst haben könnte. Sie lernt ihren hohen Kontrollanspruch kennen, das Bedürfnis, sich für die Familie aufzuopfern. "Wenn die Kinder am Wochenende mal bei Oma und Opa waren, hab ich gesagt: Komm, wir müssen die Kinder holen", beschreibt sie ihr Verhalten von damals. "Warum eigentlich?", hat ihr Mann gefragt, "die Kinder sind doch versorgt." "Wir müssen", war dann Annett Leitners letztes Wort.
Konfrontation mit den Ängsten
"In einer ersten Phase der Verhaltenstherapie habe ich Frau Leitner ermutigt, aktiver zu werden", sagt die Therapeutin Bettina Weigel, "und kleine Wünsche und Bedürfnisse wie zum Beispiel Joggen im Alltag zu berücksichtigen." Anschließend konfrontiert sie ihre Patientin mit deren Ängsten. Annett Leitner fährt Fahrstuhl, steigt auf Türme, fährt im Auto durch Dresden. Zunächst mit der Therapeutin. Später allein. Die Panik schrumpft. Die Erfolge machen Annett Leitner Hoffnung.
Im kognitiven Teil der Therapie, in dem es um Einstellungen und Gedanken geht, beschäftigt sich Annett Leitner mit ihren eigenen Bedürfnissen, die sie lange Zeit gar nicht beachtet hat. Sie beginnt wieder zu lesen, geht zu einem Volleyballverein. "Sie merkt, dass sie sich durch eigene Aktivitäten Ruhepausen schaffen muss, um wieder Kraft zu tanken", sagt die Psychologin Weigel. Die nahen Vertrauten registrieren diese Veränderung.
"Annett hat gelernt zu sagen: Ich mach was für mich. Früher hat sich bei ihr alles um die Familie gedreht. Heute geht sie auch mal ohne Wenn und Aber allein aus", sagt Ute Jana über ihre Freundin. "Ein bisschen mehr Egoist sein", sagt Annett Leitner selbst dazu. "Wirklich mal sagen: Heute könnt ihr mich mal, heute mach ich meins." Und sie hat gelernt: "Wenn was ist - reden. Ja nicht in mich reinfressen und denken, ach, es geht schon."
Wenn Annett und Hagen Leitner über ihr Leben mit der Depression reden, melden sich die Gefühle einer harten Belastungsprobe. Hagen Leitner knetet angespannt seine Hände. Annett Leitner tupft sich mit einem Taschentuch Tränen aus den Augen.
"Mama, die Tabletten!"
Die Therapie wird sie bald abschließen. Gemeinsam mit der Psychologin wappnet sie sich jetzt in den Sitzungen gegen Rückfälle. Noch wacht sie nachts ab und an zitternd auf. Aber die Panik übermannt sie nicht mehr so. Annett Leitner weiß: Die Angst kommt. Aber sie geht auch wieder. An die Antidepressiva hat sie sich gewöhnt. Sie wird sie noch eine ganze Weile nehmen, auch wenn die Dosis inzwischen geringer ist. Manchmal erinnert sie sogar ihr Sohn daran: "Mama, die Tabletten!"
"Von der Depression ist geblieben, dass die Nähe zu meinem Mann noch nicht wieder so ist wie früher. Das ärgert mich ganz schön", sagt Annett Leitner. Sie hat das in der Therapie offen angesprochen und für sich entschieden: Sie will mit ihrem Mann zusammenleben. Hätten beide einen Wunsch frei, er passte in zwei Wörter: wie vorher. Manchmal vermisst Hagen Leitner ihre Spontaneität von früher, manchmal denkt er daran, wie seine Frau durch Kleidung ihre weiblichen Reize betonte. Vorher. Aber er sagt auch: "Unsere Beziehung ist durch die Depression stärker geworden. Wir wissen, wir können uns aufeinander verlassen."
Annett Leitner hat gesehen, wie sich ihr Mann reingehängt hat. Beim Waschen und Bügeln zu Hause genauso wie in der Klinik, wo er hartnäckig Gespräche mit den Ärzten eingefordert hat, um zu erfahren, wie es steht. Drei harte Jahre haben sie hinter sich. Und weitere Anstrengungen vor sich. Sie haben einander nicht losgelassen. Die meisten Depressiven, die Annett Leitner in der Klinik kennen gelernt hat, wurden von ihren Partnern verlassen.