Es war, als schnüre ein Eisenkorsett sie ein. Immer wieder überfiel sie dieses schreckliche, beklemmende Gefühl. Zermürbender Druck lastete auf der Brust, nahm ihr den Atem, Schweiß perlte auf der Stirn. Nur ein paar Minuten lang, dann verschwand der Spuk. Kein Grund zur Panik, dachte Elisabeth Adler*, das kann halt mal passieren, wenn man mit Mitte 40 einen neuen Job anfängt.
Doch dann kam der Schmerz - wie ein Messerstich. Gerade hetzte die frisch gebackene Maklerin in ihrem BMW durch die Kölner Innenstadt von Termin zu Termin, da durchzuckte es sie, als würde ihr jemand den Brustkorb spalten. Ihr wurde schwindelig, es flimmerte vor den Augen. Mit Müh und Not konnte sie rechts ranfahren; erst nach einer halben Stunde hörte sie auf zu zittern. Sie ging sofort zum Arzt. Der nahm Blut ab, machte ein EKG und fand - nichts. Nur eine klitzekleine Unregelmäßigkeit in der Herzstromkurve; "nichts Schlimmes", beschwichtigte der Doktor die Patientin.
Die Furcht aber blieb. "Ich habe einen Zettel auf den Beifahrersitz gelegt und groß 'Herz' drauf geschrieben, damit jemand, der mich nach einem Zusammenbruch findet, sofort weiß, was los ist", sagt Elisabeth Adler. Tatsächlich kamen die Anfälle wieder; aber nicht im Auto, sondern zu Hause auf dem Sofa. Dann raste die Pumpe, schlug wie ein wildes Tier gegen die Rippen, unheimliche Angst packte sie. "Ich dachte, ich müsste sterben." So ging es jahrelang. Und alle Spezialisten, die sie aufsuchte, bescheinigten ihr immer wieder, dass ihr Sorgen-Organ in Ordung sei.
Lebensmotor stottert ohne Befund
Im Oktober vergangenen Jahres war die Maklerin am Ende. Schon morgens kurz nach dem Aufstehen ereilte sie eine Attacke, so heftig wie nie zuvor. Sie schaffte es gerade noch, ihren Sohn anzurufen. Der packte sie in den Wagen und brauste zur Klinikambulanz. Dort checkten die Ärzte Elisabeth Adler von oben bis unten: Laborwerte, Röntgenbild, EKG, Ultraschall, sogar Herzkatheter - ein aufgeregter Puls, aber sonst kein Befund. Schließlich einigten sich die Mediziner auf die Diagnose: "funktionelle kardiovaskuläre Störung".
So nennen die Ärzte eine Krankheit, der sie oft hilflos gegenüberstehen: Der Lebensmotor stottert, überdreht oder gerät ganz aus dem Takt - doch am Organ selbst ist nichts zu finden. "Die funktionelle kardiovaskuläre Störung ist ein weißer Fleck auf der Landkarte medizinischen Wissens", sagt Jörg Michael Herrmann, Professor für innere Medizin und Psychosomatik in Glottertal bei Freiburg, "da kommen wir mit mechanistischem Denken nicht weiter." Es ist die Seele, die ihren Tribut fordert und den Körper quält. Deshalb sprechen Experten von "Herzneurose" oder "Herzphobie".
Ein Krankheitsbild, das Ärzte immer häufiger feststellen. 20 bis 30 Prozent aller Patienten, die mit Herzbeschwerden Hilfe suchen, leiden unter diesen Störungen, schätzt Thomas Meinertz, Professor für Kardiologie am Uniklinikum Eppendorf in Hamburg. Insgesamt also Hunderttausende Deutsche. Sie erleben das schiere Grauen: Wenn der faustgroße, etwa 300 Gramm schwere Hohlmuskel, der in einem Menschendasein milliardenfach schlägt und die Nährstoffe bis in die fernste Zelle pumpt, zu versagen scheint, haut es den Vitalsten um. Da kriecht der Horror ins Hirn, vom Infarkt getroffen zu werden. Vor allem junge Menschen, meist zwischen 30 und 40, erwischt es, Männer häufiger als Frauen. Ein berühmter Leidender war Bertolt Brecht. Schon als 21-Jähriger lag der Autor der "Dreigroschenoper" mit Herzkrämpfen schweißgebadet im Bett und hatte manche Mühe, seine Werke aufs Papier zu bringen.
Die Betroffenen durchleiden eine jahrelange Odyssee in Praxen und Kliniken - und bei manchen wird die Krankheit nie erkannt. Zum einen sind viele Ärzte mit den Patienten überfordert. Sie können sich den Widerspruch zwischen den Beschwerden und den harmlosen Befunden nicht erklären, deuten dann minimale EKG-Veränderungen falsch und dichten ihm damit einen organischen Schaden an.
Wie ein ungeliebter Wanderpokal werden die Hilfesuchenden weitergereicht. Wenn ein Arzt zudem pro forma, um den Leidenden vordergründig zu beruhigen, auch noch ein Medikament verschreibt und dieser die Indikationen auf dem Beipackzettel liest, hat der Doktor einen Dauerkunden. "Häufig tragen Ärzte so ungewollt zur Krankheitsentwicklung bei", sagt Meinertz. "Jedes Stirnrunzeln überm EKG-Streifen kann der Anfang einer Patientenkarriere sein."
Angst beherrscht das ganze Leben
Zum anderen beharren viele Gepeinigte selbst dann, wenn der Doktor Entwarnung gibt, aufgrund ihrer Schmerzen und Ängste darauf, dass ein organischer Schaden vorliegen muss. Sensibilisiert durch zahlreiche Herzinfarkt-Aufklärungskampagnen, die raten, schon die kleinsten Signale ernst zu nehmen, sind die Geplagten davon überzeugt, es könnte doch etwas übersehen worden sein. Oder aber der Mediziner traue sich nicht, ihnen die vermeintlich schlimme Nachricht mitzuteilen. Sie wechseln sofort den Arzt, wenn sie hören: "Ich finde nichts, Sie sind gesund."
Für die meisten Doktoren ist das Problem abgehakt, wenn sie alle körperlichen Ursachen ausgeschlossen haben. Dann aber bleibt der Patient mit seinen Qualen allein. "Dabei könnte in einfachen Fällen, und das sind die meisten, schon das ausführliche Gespräch mit einem einfühlsamen Hausarzt eine Menge bewirken", sagt Herrmann.
Wenn aber die Pein über viele Jahre chronisch geworden ist, kann oft nur noch eine psychosomatische Behandlung aus dem Desaster befreien. Aus einem Leben, in dem die Angst alles beherrscht und in dem nicht nur der Betroffene, sondern die ganze Familie leidet. Häufig macht sich zu Hause ein sanatoriumsartiges Klima breit. Der Kranke kann allein nicht mehr vor die Tür, weil er fürchtet zusammenzubrechen; Dienstreisen oder Verwandtenbesuche sind nur möglich, wenn es entlang der Route genügend Kardiologen gibt. Urlaub auf der Alm oder der Hallig Hooge? Nicht daran zu denken, kein Arzt weit und breit.
"Normalerweise weigern sich die Patienten, an einen Psychosomatiker oder -therapeuten überwiesen zu werden, da sie sich körperlich und nicht psychisch krank fühlen", sagt Herrmann. "Viele schämen sich, in die Psychoecke gestellt zu werden." So braucht ein Arzt viel Fingerspitzengefühl, um dem Kranken klar zu machen, dass er keineswegs als Simulant angesehen oder als "verrückt" abgestempelt werden soll. Sondern dass er in einer psychosomatischen Behandlung mit seinen körperlichen Beschwerden sehr ernst genommen wird, ernster als bei vielen Kardiologen.
Lässt sich der Patient darauf ein, ist schon eine Menge gewonnen. Wie bei Elisabeth Adler. Der Kölner Maklerin wurde erst in der Therapie von Professor Herrmann klar, dass ihre Herznot zeitgleich mit dem Jobwechsel anfing: Schwere berufliche Belastung und immense Geldsorgen brachten sie in die Klemme - da schlug das Innerste Alarm. "Seit ich hier in der Klinik Glotterbad bin, hatte ich keinen einzigen Anfall mehr", sagt sie. "Wenn ich nach Hause komme, werde ich Last abwerfen." Dann, so hofft sie, wird ihr Horrortrip für immer ein Ende haben.
Die Auslöser sind vielfältig: bedrückende Lebenssituationen, Streit, Trennungen, Tod, Herzinfarkte bei Freunden oder in der Familie. Allerdings haben Psychosomatik-Forscher in den Lebensgeschichten der Kranken immer wieder Gemeinsames gefunden: eine ängstliche Persönlichkeitsstruktur, tiefe Selbstunsicherheit, emotionale Vernachlässigung, aber auch Überversorgung, Verwöhnung und zu große Ansprüche im Kindesalter seitens der Eltern.
Solche Menschen erleben kleinste Unregelmäßigkeiten am Organ - die jeder jeden Tag hat - besonders intensiv und verlieren das Vertrauen in sein automatisches Schlagen. Für sie liegt nahe, diese Störung mit einer schlimmen Erkrankung in Verbindung zu bringen. Die Vorstellung erzeugt dann noch mehr Angst, die Selbstbeobachtung wird noch intensiver, und umso stärker werden dann wiederum die "normalen" Extraschläge gespürt. Ein Teufelskreis.
Das Herz funkt SOS
In den Strudel aus Panik und Schmerz geriet auch Philip Sägedobel. Den 27-jährigen Buchhändler aus Stuttgart quälten monatelang Herzstolpern und -schmerzen. Er lebte in Todesangst. Erst in einer Therapie wurde ihm klar, dass dies alles mit dem Ende seines Junggesellenlebens zusammenhing. Er war direkt von den Eltern zu seiner frisch angetrauten Ehefrau gezogen. Dort fehlte ihm das gewohnte betütelnde Milieu, zudem missbilligte seine Gattin die lieb gewonnenen Vereinsabende mit seinen Sportkameraden. Immer wieder gab es deswegen Konflikte, aber er konnte den Zwiespalt nicht lösen. Das Herz funkte SOS - und hörte erst auf, als alles auf den Tisch kam.
Auch Stefan Rindsberg traute sich wegen seines jagenden Herzens über Jahre kaum noch aus dem Haus. Der 33-jährige Philosophiestudent aus München erkannte erst in der psychosomatischen Behandlung, dass die Anfälle kurz nach dem Tod seines Vaters begonnen hatten. Der war jäh an einem Infarkt gestorben. Stefan hatte kurz zuvor zum ersten Mal überhaupt ein Verhältnis zu ihm entwickeln können; in der Kindheit war die Beziehung von Sohn und Familienoberhaupt stark gestört, da der Vater seinem Sprössling die Anerkennung verweigerte. Der plötzliche Verlust der umbuhlten Autoritätsperson machte Stefan krank. Bis die Therapie ihn erlöste.
Heilung ist oft nicht von Dauer
"Man muss die Angst behandeln", sagt Gerhard Danzer, Psychosomatiker und Internist an der Berliner Charité, "und die ist noch schwerer zu therapieren als etwa eine Spinnenphobie oder Höhenangst. Denn dort kann das gefürchtete Objekt immerhin gemieden werden; hier aber funktioniert das nicht, weil sie den eigenen Körper betrifft." So müssen in mühsamer Kleinarbeit Zusammenhänge zwischen Symptomen und seelischen Entwicklungen des Herzneurotikers herausgearbeitet werden. Gleichzeitig muss er Entspannungstechniken wie autogenes Training oder progressive Muskelrelaxation erlernen. Und schließlich wird geübt, sich Angstsituationen zu stellen und Schritt für Schritt die Furcht abzubauen.
"Die Neurose kann sich auch bessern, wenn sich das Beziehungsgeflecht des Patienten ändert, er etwa einen neuen Partner kennen lernt oder einen anderen Chef bekommt", sagt Danzer. Denn bei vielen Kranken ist das Leid wie weggepustet, wenn eine starke Persönlichkeit an ihre Seite tritt. Deshalb geht es ihnen meist rasch besser, wenn sich ein Arzt um sie kümmert. Doch damit sind sie noch lange nicht geheilt.
"Oft kommt bei einer Trennung das alte Elend wieder", sagt Danzer. "Wir behandelten einen jungen Feuerwehrmann auf unserer Station, der bei uns beschwerdefrei wurde, aber am Entlassungstag erlebte er schon beim Pförtner neuerliche Attacken."
In vielen Fällen wäre die Behandlung einfacher, wenn die Leiden eher erkannt und angegangen würden. Durchschnittlich sieben Jahre nämlich, so haben Studien herausgefunden, dauert der Irrweg eines Patienten, bis er kompetente Hilfe findet. "Die Ärzte müssten für solche Probleme besser ausgebildet werden", sagt Herrmann, "bisher wird ihnen hauptsächlich beigebracht, dass es für körperliche Beschwerden auch eine körperliche Ursache geben muss." Darüber hinaus müssten die Mediziner ausführliche Gespräche besser vergütet bekommen. Doch derzeit wird oft lieber ein Beruhigungsmittel verschrieben; so kann auch noch eine Medikamentenabhängigkeit entstehen, die das wahre Problem verschleiert.
Obendrein kostet der vertrackte Leidensweg die Gesellschaft und Krankenkassen Unsummen, die sich durch bessere Diagnose und Therapie drastisch senken ließen. Weil das Gros der Patienten im erwerbsfähigen Alter ist, schlagen Krankschreibung, Arbeitsunfähigkeit und Frühverrentung mit Abermillionen zu Buche.
32 Mal im Notarztwagen
So dauert das Martyrium von Franz Leimen aus Hamburg nun schon seit 25 Jahren an. Damals fühlte der heute 64-Jährige den ersten Stich im Herzen. "Seither kann ich mich über keinen Tag in meinem Leben mehr freuen, mir geht es hundeelend", sagt der ehemalige Ingenieur, der vor 17 Jahren in Rente ging. "Ich kriege Herzstolpern beim Bücken und beim Duschen." Deshalb muss er sich schonen und liegt viele Stunden des Tages auf der Couch. Aber auch da erwischt es ihn. "Ich habe keine Freunde mehr und bin eine große Last für meine Frau." Heiligabend und Silvester verbringt er meist im Bett.
Urlaub gab's für die beiden noch nie. "Zweimal haben wir es versucht, am Bodensee und in Bad Schwalbach, doch jedes Mal mussten wir nach ein paar Tagen abbrechen, weil die Schmerzen in der Brust unerträglich wurden." Wie viele Ärzte Franz Leimen bis heute aufgesucht hat, weiß er nicht. "2000 bis 3000 EKGs wurden bei mir gemacht." ´
Für die Diensthabenden der Ambulanzen ist er ein guter Bekannter. In einem Jahr raste der Notarztwagen 32 Mal mit ihm ins Krankenhaus, einmal holte ihn der Rettungshubschrauber. "Jedes Mal konnte nichts festgestellt werden", erzählt Leimen. Diverse psychosomatische Behandlungsversuche scheiterten. "Es ist ja gar nicht gesagt, dass alles vom Kopf kommt", sagt der Kranke. Also schleppt er sich von Tag zu Tag, ständig in der Angst zu sterben. Und hofft dringend, dass er irgendwo doch noch Hilfe findet.
So riesig das Leid der Herzneurotiker, so gering ihr tatsächliches Risiko, vom Infarkt erwischt zu werden. "Kaum eine andere Patientengruppe passt besser auf sich auf und ist medizinisch so gut überwacht", sagt Gerhard Danzer. "Die Geplagten rauchen selten oder gar nicht, und ihr Blutdruck, der Blutzucker und die Blutfette sind häufig normal." Ideale Voraussetzungen, um steinalt zu werden.
* Alle Patientennamen von der Redaktion geändert