Zwei Menschen jenseits der 60 mit schütterem Haar, faltiger Haut und Doppelkinn, die Liebe machen. Und es sichtlich genießen, anscheinend nicht anders als 20-Jährige. Regisseur Andreas Dresen hat in seinem Film "Wolke 9" Bilder geschaffen, die zeigen, wie lustvoll Sex im Alter sein kann. Menschen, die heute zu den Alten zählen, haben in jungen Jahren oft eine freiere Sexualität gelebt als etwa ihre Eltern. Und diese Menschen schämen sich nun auch in der zweiten Lebenshälfte nicht ihres Liebeslebens.
Das steht im krassen Gegensatz zu den Klischees, die Jahrhunderte lang gepflegt wurden. Weil frühere Generationen der Meinung waren, dass Alter und Sexualität nicht zusammen passen, war der "lüsterne Greis" der Lächerlichkeit preisgegeben. Bei Frauen war die erotische Anziehungskraft eng an die Fruchtbarkeit gebunden. Nach den Wechseljahren sollte demnach im Bett nichts mehr laufen.
Sex als Fitnessübung
Gewollt oder ungewollt stricken die freizügigen Filmszenen aus "Wolke 9" allerdings mit an einer neuen, bedenklichen Norm. Denn so falsch das Bild von den asexuellen Senioren war, so problematisch ist der Umkehrschluss, nach der Devise: Sex bis ins hohe Alter hält fit, Potenzmittel und Hormonpillen werden es schon richten. Derlei Vorgaben kommen zwar den Interessen der pharmazeutischen Industrie entgegen. Ob der erotische "Fitnesswahn" alten Leuten aber tatsächlich nützt, ist fraglich.

Denn die neue Norm missachtet die Tatsache, dass der Körper eines über 60-Jährigen eben nicht mehr derselbe ist wie der eines 20-Jährigen: Knochen- und Muskelmasse haben abgenommen, die körperliche Kraft hat nachgelassen. Damit sind vor allem bei Männern die körperlichen Reaktionen beim Liebesspiel verlangsamt. Wer das ignoriert und krampfhaft an seinem jugendlichen Selbstbild festhält, setzt sich unter Druck. Anspannung aber ist ein Feind der Lust.
Vielfältige Veränderungen
Mit Beginn der Wechseljahre stellt sich der Körper der Frau langsam um. Er produziert immer weniger vom weiblichen Geschlechtshormon Östrogen. Das wirkt sich auf die Sexualorgane aus: Die Schleimhäute der Scheide sind weniger stark durchblutet, sie werden etwas dünner und empfindlicher. Außerdem ist die Scheide nicht mehr so feucht wie in jungen Jahren, es kann also weh tun, wenn der Penis eindringt, zumindest dann, wenn die Frau nicht genügend erregt ist.
Trotzdem bleiben Frauen bis ins hohe Alter so lustvoll wie in jüngeren Jahren und erleben ihren Orgasmus genau so intensiv. Bei Männern hingegen verändert sich mit den Jahren die körperliche Reaktion beim Sex: Der Penis ist nicht mehr so steif wie früher, es dauert länger, bis es zu einer Erektion kommt, gelegentlich versagt er völlig. Die Lust an der Liebe mindert das jedoch nicht. Allerdings können oft Krankheiten wie Bluthochdruck und Diabetes, die oft im Alter auftreten, und Eingriffe wie Prostata-Operationen dazu führen, dass es seltener oder auch gar nicht mehr klappt. Auch bestimmte Medikamente, zum Beispiel Beta-Blocker, können eine Erektion beeinträchtigen.

Wer sein Leben lang sportlich war, wird auch im Alter aktiv bleiben. Das gleiche gilt für die Erotik: Wer sein Leben lang lustvoll geliebt hat, wird auch im Alter Spaß am Sex haben. Die Spielarten der Liebe aber verändern sich: Ältere und alte Menschen, die in einer Partnerschaft leben, schlafen nicht mehr so häufig miteinander und haben weniger "klassischen" Geschlechtsverkehr. Dafür finden sie andere Formen der erotisch-sexuellen Intimität und sind insgesamt eher zärtlich als wild miteinander.
Die Rolle der Gesellschaft
Fakt ist: Wir bleiben unser Leben lang sexuelle Wesen, wir haben - mit den Jahren schwächer werdende - erotische Fantasien, Wünsche und Empfindungen. Einer neueren Studie zufolge verspüren unter den 75-Jährigen noch 61 Prozent der Frauen und 58 der Männer regelmäßig sexuelles Verlangen.
Ob sie dieses Verlangen auch ausleben, hängt nicht so sehr von ihren alternden Zellen ab. Sondern von individuellen und gesellschaftlichen Bedingungen, als da sind:
- Lebt die Person in einer Beziehung?
- Wie lange besteht die Partnerschaft schon?
- Wie hat die Person Sexualität bisher bewertet und gelebt?
- Wie beeinträchtigt ist sie durch Krankheiten?
- Zu welcher Generation gehört sie?
Jenseits der 60 erfreuen sich immerhin noch knapp 40 Prozent eines Sexuallebens. Mit den weiteren Jahren werden es allmählich weniger, vor allem bei den Frauen. Die Mehrheit der Seniorinnen hat zwar bis Ende 70 sexuelle Wünsche und Fantasien. Trotzdem gaben bei einer Befragung von über 60-Jährigen nur 25 Prozent an, sexuell aktiv zu sein. Bei den gleichaltrigen Männern waren es dagegen 58 Prozent.
Die Gründe für dieses große Gefälle sind auch gesellschaftlicher Natur: Frauen werden im Schnitt sieben Jahre älter als Männer, jenseits der 65 herrscht also - aus weiblicher Sicht - Männermangel. Außerdem zieht es die älteren Herren häufig zu jüngeren Partnerinnen, das verschärft die Mangelsituation für reifere Damen noch. So sind denn auch drei Viertel der 75- bis 79-jährigen Männer verheiratet, aber nur 38 Prozent der gleichaltrigen Frauen.
Der kleine Unterschied
Erschwert wird die Suche nach einem Mann noch durch den sogenannten "double standard of aging", das heißt, an die älter werdende Frau werden andere Maßstäbe angelegt als an den älter werdenden Mann. Der gilt mit seinen grauen Schläfen à la George Clooney nämlich als attraktiv, die ebenso agile Altersgenossin dagegen wird als nicht mehr jung und damit als sexuell unattraktiv wahrgenommen. Und so sehen viele dieser Frauen sich dann auch selbst. Manche bleiben nach dem Tod des Partners oder nach einer Trennung aber bewusst Single: Sie haben jahrelang lustlos mit ihrem Mann geschlafen und sind froh, endlich keine sexuelle Verpflichtung mehr zu haben.
Im Prinzip ist es bei der Liebe im fortgeschrittenen Alter wie bei der Liebe in jedem Alter: Offenheit und Vertrauen steigern die Lust. Wer freimütig über sexuelle Wünsche und Bedürfnisse spricht, ist zufriedener. Männern raten Sexualtherapeuten, ihr Selbstwertgefühl nicht davon abhängig zu machen, ob mit dem besten Stück alles so läuft und steht wie früher. Den eigenen Körper mit seinen Veränderungen anzunehmen, ist für Männer wie Frauen die beste Voraussetzung für eine befriedigende Sexualität.
Köperliche Veränderugen bei Frauen
In den Wechseljahren stellt sich der Körper der Frau um: Der Anteil der weiblichen Botenstoffe, der Östrogene sinkt, die im weiblichen Organismus ebenfalls vorhandenen "männlichen" Sexualhormone werden zwar auch weniger, schwinden aber langsamer und gewinnen so vergleichsweise an Bedeutung. Das wirkt sich auch auf die Geschlechtsorgane aus. So kann das Fettgewebe unter dem Schamhügel und in den großen und kleinen Schamlippen abnehmen. Die Scheide dehnt sich dann nicht mehr so leicht und kann in Länge und Breite etwas schrumpfen. Ihre Wände sind nicht mehr so stark durchblutet, die Vagina und die äußeren Geschlechtsorgane, die Vulva, werden zarter und empfindlicher.
Außerdem ist die Scheide nicht mehr so feucht wie früher, und es dauert länger, bis sie bei sexueller Erregung genug Gleitflüssigkeit bildet. Normalerweise reicht diese aus, um unbeschwert die Sexualität zu genießen. Eine Studie zeigt, dass ältere Frauen, die über Schmerzen beim Liebesakt klagten, meist nicht erregt genug waren. In jüngeren Jahren hatte ihnen das nichts ausgemacht, weil ihre Scheide damals auch ohne Erregung feucht genug wurde, um schmerzfreien Sex zu haben.
Die Fähigkeit, einen Orgasmus zu erleben, verliert sich mit dem Alter nicht - auch wenn die Kontraktionen, also das rhythmische An- und Entspannen der Muskeln, weniger zahlreich sind und sanfter verlaufen.
Probleme beim Sex
Weil die Scheidenwand dünner wird, kann sie Blase und Harnröhre beim Sex nicht mehr so gut vor den Bewegungen des Penis schützen. Das führt unter Umständen zu einer sogenannten Reizblase. 13 Prozent aller älteren Frauen leiden darunter, allerdings ist nicht immer die erotische Begegnung der Auslöser. Die Betroffenen können den Harn nicht mehr richtig halten, müssen häufig auf die Toilette und lassen mitunter beim Sex unfreiwillig ein paar Tropfen Urin. Manche Seniorin verliert auch einfach die Lust an der Liebe, weil sie beim Geschlechtsverkehr Schmerzen hat - im Unterbauch, in der Scheidenöffnung oder im Innern der Scheide. Sieben Prozent der verheirateten älteren Frauen haben während oder auch nach dem Sex solche Beschwerden. Mediziner sprechen dann von Dyspareunie - lax übersetzt: Es läuft was falsch im Bett.
Die Ursachen können manchmal Frauenärzte klären. Etwa wenn sie Pilze in der Scheide feststellen, Verwachsungen nach Operationen oder Entzündungen. Meist aber existieren zusätzlich seelische Gründe: Wenn eine Frau, etwa wegen einer Scheidenentzündung, den Sex mehrere Male als schmerzhaft erlebt hat, fürchtet sie sich beim nächsten Mal davor. Ihre Scheide wird dann nicht mehr feucht genug, und es tut wieder weh. So setzt sich die Schmerz-Angst-Spirale fort. Aber auch rein seelische Ursachen wie Schuldgefühle, Ängste, Spannungen und Konflikte mit dem Partner können die Freude am Sex verderben.
Generell gilt: Wenn immer wiederkehrende Schmerzen die Liebe zur Last werden lassen, sollte zunächst die Frauenärztin nach körperlichen Gründen suchen. Gibt es keine, kann ein Sexualtherapeut sich der Seele annehmen.
Körperliche Veränderungen bei Männern
Anders als die Frau kann der Mann bis ins hohe Alter fruchtbar bleiben. Die Wahrscheinlichkeit, ein Kind zu zeugen, wird mit der Zeit jedoch immer geringer. Ob auch Männer in die Wechseljahre kommen, war lange Zeit umstritten. Heute verwerfen Mediziner die Idee eines männlichen Klimakteriums. Zwar sinkt auch bei älteren Herren der Hormonspiegel, der Körper produziert weniger vom männlichen Botenstoff Testosteron. Doch dieser Prozess zieht sich langsam über die Jahre hin und verläuft individuell völlig unterschiedlich. Viele Männer haben noch mit 80 einen hohen Testosteronspiegel.
Der normale Alterungsprozess selbst wirkt sich jedoch auch ohne "offizielles" Klimakterium auf die körperliche Liebe aus. Ältere Männer brauchen länger, bis ihr bestes Stück einsatzbereit ist. Der in die Jahre gekommene Penis rafft sich nicht mehr so gern von allein auf, er möchte von der liebsten Person direkt dazu angeregt werden. Und auch dann wird er nicht mehr so steif wie früher, Orgasmus und Samenausstoß bleiben vielleicht sogar ganz aus. Nach dem Höhepunkt schlafft das Glied schneller ab. Bis es wieder zur Liebe bereit ist, können Stunden oder sogar Tage vergehen.
Lustkiller Krankheit
Manchmal allerdings klappt, trotz leidenschaftlicher Bemühung aller Beteiligten, gar nichts mehr. Solche gelegentlichen Pannen sind bei reiferen Semestern völlig normal. Mit den Jahren häufen sich meist die Potenzprobleme - und das nicht etwa, weil das Altern an sich die Lust auf Sexualität dämpft, sondern weil der Mensch im Laufe der Zeit nun mal immer gebrechlicher und anfälliger für bestimmte Krankheiten wird. Männer mit zu hohem Blutdruck, Diabetes oder erhöhten Blutfetten sind potenziell gefährdet, ebenso Männer, deren Arterien verkalkt und deren Herzkranzgefäße verengt sind. Kommt die Angst zu versagen dazu, wird alles noch schlimmer.
Dabei besteht kein Grund zur Panik. Leben heißt nun mal Veränderung. Wer um die normalen Vorgänge im älter werdenden Körper weiß, kann gelassener mit ihnen umgehen. Wer sich an den Normen der Jugend misst, schafft hingegen nur unnötigen Stress und entwickelt womöglich heftige Ängste, den eigenen Vorstellungen und denen des geliebten Menschen nicht mehr zu genügen. Dabei bleibt dann oft die Lust auf der Strecke. Sexualtherapeuten raten älteren Männern daher, ihr männliches Selbstbewusstsein nicht nur an ihrer Verkehrstüchtigkeit zu messen - Sexualität und Intimität sind weit mehr als die Vereinigung der Geschlechtsorgane.