Sprechstunde Verflixte Bandscheibe

Nicht alles, was über Bandscheibenvorfälle gesagt wird, ist richtig. So ist nicht jeder Vorfall die Folge von Verschleißerscheinungen, und nicht jeder muss operiert werden.

Im Gegenteil: "Wir schätzen, dass es heute weniger als fünf Prozent sind", sagt Gerd Müller, Orthopäde im Hamburger Rückenzentrum am Michel und deutscher Vertreter in der EU-Kommission zur Prävention von Rückenschmerzen. Auch dass die aus der Form geratene Bandscheibe immer schmerzhafte Qualen verursacht, stimmt nicht.

Im Gegenteil: Viele Menschen wissen gar nicht, dass sie betroffen sind. Die Wahrscheinlichkeit, mit der Kernspintomografie einen Bandscheibenvorfall festzustellen, entspricht dem Lebensalter. Demnach haben ein Drittel aller 30-Jährigen und die Hälfte aller 50-Jährigen lädierte Wirbelsäulenstoßdämpfer. Die Probleme mit dem anfälligen Stoßdämpfersystem unseres Rückgrats treten meist zwischen 35 und 55 Jahren auf.

Vor allem einseitige Belastungen wie langes Stehen oder Sitzen, Arbeiten in gebückter Haltung beanspruchen die Wirbelsäule mit ihren 24 Wirbelknochen, dem Kreuz- und Steißbein sowie den vielen Gelenken und Muskeln extrem. Besonders anfällig sind die Bandscheiben der Lendenwirbelsäule.

Kleine Rückenschule

Schon mit einfachen Tipps können Sie Schmerzen und chronische Schäden verhindern.

Gesundes Sitzen will gelernt sein:

Wichtig ist, dass die Wirbelsäule immer gerade ist. Denn wer vornübergebeugt mit rundem Rücken sitzt, überdehnt die Wirbelsäule.

Die Sitzfläche sollte so hoch sein, dass Oberschenkel und Unterschenkel rechtwinklig zueinander stehen und beide Fußsohlen ganz den Boden berühren. Kippen Sie außerdem Ihr Becken etwas nach vorn und stellen Sie die Beine hüftbreit auseinander.

Außerdem entlastet dynamisches Sitzen die Bandscheiben:

Verändern Sie Ihre Sitzposition so oft wie möglich, sitzen Sie also mal auf der einen, mal auf der anderen Gesäßhälfte, mal ganz nach hinten gelehnt, oder telefonieren Sie immer im Stehen. Beim Fernsehen bieten sich die Werbepausen zum Aufstehen an. Auch Sitzbälle schaffen ein Gleichgewicht zwischen Be- und Entlastung der Bandscheiben. Wichtig ist wie bei allen anderen Sitzgelegenheiten (zum Beispiel Autositz), dass sie richtig auf die jeweilige Größe eingestellt sind.

Gesundes Schlafen ist wichtig:

Schließlich verbringen wir einen großen Teil unseres Lebens im Liegen. Flach auf dem Rücken zu schlafen (auf einer nicht zu weichen Matratze) schont den Rücken. Auch die Embryonalhaltung mit angewinkelten Beinen und dem Kopf auf einem flachen Kissen ist eine empfehlenswerte Position. Ein weiteres Kissen zwischen den Knien verhindert, dass sich das Becken verdreht. Nicht gesund ist hingegen das Schlafen auf dem Bauch, denn das verstärkt das Hohlkreuz. Wer unbedingt auf dem Bauch schlafen will, sollte sich ein Kissen unter den Bauch legen, um das Hohlkreuz zu strecken. Wenn Sie aus dem Bett aufstehen wollen, versuchen Sie immer mit angewinkelten Beinen über die Seite in eine aufrechte Position zu kommen und die Beine über die Bettkante nach unten zu führen.

Richtiges Tragen und Heben kann man lernen:

Zusätzlich zum eigenen Körpergewicht machen den Bandscheiben schwere Lasten zu schaffen. Wenn Sie Schweres heben, sollten Sie mit beiden Beinen, sprich beiden Fußsohlen, auf dem Boden stehen und den Körper gerade halten. Versuchen Sie, den Oberkörper weiterhin zu strecken, während Sie beim Anheben des Gegenstands in die Knie gehen. Spannen Sie außerdem beim Tragen und Heben Po- und Oberschenkelmuskeln an, sie leisten dabei die Hauptarbeit.

Das heißt aber nicht, dass man sich permanent schonen soll, keine Lasten mehr heben oder nicht stundenlang sitzen darf. Wichtig ist vielmehr, dass die Muskulatur regelmäßig beansprucht wird und die Bewegungen abwechslungsreich sind. Denn eine einseitige Körperhaltung spannt die Rückenmuskulatur stark an. Und auf den Bandscheiben lastet ein hoher Druck.

Sie federn zwar mit ihrem äußeren Faserring und dem gallertartigen inneren Kern alles ab, was auf das Rückgrat wirkt. Hält die hohe Belastung jedoch über längere Zeit an, geben die Puffer vermehrt Flüssigkeit an das umliegende Gewebe ab und trocknen ein.

Je älter, desto schlimmer

Und mit den Jahren wird es nicht besser: Bereits ab dem 20. Lebensjahr etwa nimmt die Fähigkeit der Bandscheiben, Wasser zu binden, deutlich ab. Als Erstes verschleißt immer der äußere Bindegewebsring: Er wird mit der Zeit porös und verliert an Elastizität. Jetzt braucht der Rücken regelmäßig Entspannung, damit die Stoßdämpfer entlastet werden und wieder Flüssigkeit aufnehmen.

Wird das Rückgrat hingegen weiter gefordert, reißt der Faserring irgendwann ein, und der weiche Kern gerät aus der Fassung: Entweder wölbt er sich nur nach außen vor oder tritt gleich ganz aus.

Welche Behandlung ist die Richtige?

Dann wird's eng im Wirbelkanal, der das Rückenmark, die Blutgefäße und die seitlich austretenden paarigen Nervenwurzeln enthält. Der Patient bekommt Schmerzen, neurologische Ausfälle bis hin zu Lähmungen - je nachdem, wie nah das ausgetretene Bandscheibengewebe den Nerven kommt und sie eindrückt. Meistens führt die Reizung des Nervengewebes zu Entzündungen. Die eine erfolgreichste Behandlungsmethode gibt es nicht, jeder Therapeut hat seine eigene: Physiotherapeuten schwören auf Krankengymnastik, Hausärzte und Orthopäden verschreiben Schmerzmittel und Injektionen, Akupunkteure setzen Nadeln, und Neurochirurgen entfernen gelockerte Teile der Bandscheibe. Selten muss gleich operiert werden. Nach Meinung des Hamburger Spezialisten Müller "erst, wenn die Schmerzen im Bein deutlich stärker sind als die Rückenschmerzen". Einzige Indikation, bei der sofort gehandelt werden muss, ist die Störung der Blasen- und Darmfunktion.

Schmerzen und leichte Lähmungen, sodass der Patient Schwierigkeiten hat, den Fuß zu heben, werden zunächst mit entzündungshemmenden Medikamenten, Schmerzmitteln und etwas Physiotherapie behandelt. "Nur wenn sich die Symptome nach vier bis sechs Wochen nicht bessern, muss eine Operation in Erwägung gezogen werden", sagt Müller.

Operieren bevor sich ein Schmerzgedächtnis entwickelt

Kirsten Schmieder, leitende Oberärztin der Neurochirurgie der Ruhr-Universität Bochum, setzt das Messer an, wenn die Schmerzen länger als drei Monate anhalten. "Neue Ergebnisse aus der Schmerzforschung belegen, dass es für den Heilungserfolg günstig ist, wenn operiert wird, bevor sich ein Schmerzgedächtnis entwickelt."

Etwa 60.000-mal im Jahr wird in deutschen Operationssälen an der Wirbelsäule geschnitten und gesäbelt. Je nach Zustand des Bandscheibenvorfalls wählen die Experten konventionelle oder minimal-invasive Verfahren oder ersetzen die kaputte Scheibe gleich ganz. Bei der ersten Methode wird unter dem Mikroskop mit dreifacher Vergrößerung operiert. Beim minimal-invasiven Verfahren ist nur ein etwa zwei bis drei Zentimeter kleiner Zugang nötig. Unter Vollnarkose wird ein Endoskop - ein Führungsrohr für eine Kamera und eine Lichtquelle sowie ein, manchmal zwei Instrumente - zwischen den Wirbelkörpern an der Nervenwurzel vorbei bis zum Ort des Geschehens vorgeschoben und das Gewebe dann entfernt. Geeignet ist das endoskopische Verfahren vor allem bei großen, relativ frischen Vorfällen, während das schon gealterte Bandscheibenmaterial bei länger zurückliegenden Vorfällen nicht mehr so einfach durch das enge Führungsrohr entfernt werden kann.

Für den Ersatz kompletter Bandscheiben oder ihres inneren Kerns stehen heutzutage beispielsweise Metall oder Titan zur Verfügung. Der Einsatz setzt allerdings voraus, dass der Patient nicht zu alt und der Vorfall nicht zu groß ist. Im Alter sind seine kleinen Wirbelgelenke ober- und unterhalb der Bandscheibe bereits meist degeneriert, das heißt "morsch". Sie können der künstlichen Bandscheibe nicht genug Druck entgegensetzen, und die Kunstscheibe hat damit zu viel Bewegungsspiel.

Es gibt keine absolute Methode

Bisher konnte nicht nachgewiesen werden, welche Methode letztendlich die erfolgreichste ist - das operative Vorgehen hängt vor allem von der Art des Vorfalls ab: Wie und wo ist die Bandscheibe ausgetreten, ist es ein kleiner oder ein großer Vorfall?

Die Elektrotherapie, bei der ein Katheter im Faserring der Bandscheibe platziert und dann Wärme zugeführt wird, soll ähnliche Effekte wie die Lasertherapie erzielen, bei der die Bandscheibenstruktur verdampft wird: Die Schmerzen aus dem Bandscheibengewebe werden angeblich nicht mehr weitergeleitet, und das Gewebe des Faserringes wandele sich um, sodass kleinere Einrisse wieder verschlossen werden. Der Nutzen beider Methoden ist noch nicht ausreichend erforscht, sie sind unter Experten umstritten.

Bis zu 40 Prozent der Betroffenen mit Bandscheibenproblemen entwickeln unabhängig von der Art der Therapie langfristig chronische Schmerzen. Das heißt, die Beschwerden halten länger als drei Monate an, sind ständig spürbar oder kehren als Schmerzattacken in immer kürzeren Abständen wieder. Dass sich der "Diskusprolaps" - wie der Bandscheibenvorfall im Medizinerdeutsch heißt - so häufig zu einem längerfristigen Krankheitsbild entwickelt, hat viele Gründe. Vor allem die psychische Situation, die sozialen Umstände und die Arbeitsbedingungen spielen eine große Rolle.

Druck auf die Seele

Patienten, bei denen "die Seele auf die Bandscheiben drückt", sind häufig depressiv verstimmt, stark durch den familiären Alltag belastet, oder sie meiden alle körperlichen und sozialen Aktivitäten, die zu Schmerzen führen könnten. Nach Erfahrung der Psychologieprofessorin Monika Hasenbring von der Ruhr-Universität Bochum ist ein Großteil der Patienten anhand dieser psychologischen Risikofaktoren erkennbar, bevor die Schmerzen chronisch werden.

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Beate Wagner

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