Hinweis: Diesen Text haben wir zuerst im Dezember 2022 veröffentlicht. Zum heutigen "Tag des Vorlesens" empfehlen wir ihn erneut.
Manchmal, da liest mir mein Mann vor dem Einschlafen etwas vor. Es passiert leider viel zu selten. In der Regel kommen das Leben und die Müdigkeit dazwischen. Wenn es passiert, sind es besondere Momente. Ich liebe seine Stimme. Ich mag diese besondere Konzentration beim Zuhören. Und ich mag, was danach passiert: Wenn wir zu bestimmten Wörtern und treffenden Beschreibungen zurückkehren. Uns fragen, wie dieses oder jenes wohl gemeint war.
Was für mich als Erwachsene etwas Besonderes und Seltenes ist, war als Kind etwas Selbstverständliches. Das sollte es im Idealfall auch sein: Bei der Stiftung Lesen sprechen sie vom gemeinsamen Vorlesen als "Superpower". "Die Vorteile des Vorlesens für Kinder sind vielfältig", sagt Betty Becker-Kurz, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Lese- und Medienforschung der Stiftung Lesen. Vorlesen fördere nicht nur die Kreativität und die Vorstellungskraft, sondern helfe Kindern auch, ihr Vokabular zu erweitern und sich besser zu konzentrieren.
Vorlesen als Superkraft
Becker-Kurz verweist auf Studienergebnisse, laut denen Kinder, denen regelmäßig vorgelesen wird, neben höheren akademischen Leistungen auch höhere sozioemotionale Kompetenzen aufweisen. Sie zeigen ein höheres Maß an Empathie, Hilfsbereitschaft und Verantwortungsbewusstsein und besitzen häufiger die Fähigkeit, anderen zuzuhören. "Die Zusammenhänge sind unabhängig vom Bildungsgrad der Eltern, vom Geschlecht der Kinder und von der Kommunikation in der Familie." Sogar Chancengleichheit ist also Teil der Superkraft Vorlesen.
Und auch Erwachsene profitieren davon. Das Vorlesen stärke die sozialen Beziehungen in der Familie, so Becker-Kurz. Neben der Steigerung der positiven Emotionen habe eine weitere Studie gezeigt, dass das gemeinsame Vorleseritual Eltern in ihrer Stressbewältigung zu Gute komme. Es sei davon auszugehen, dass das gemeinsame Vorlesen neben den bereits bekannten kognitiven Auswirkungen auch positiven Einfluss auf die emotionale Gesundheit von Kindern und Erwachsenen habe.
Die Beliebtheit von Hörbüchern zeigt, dass sich auch viele Erwachsene gerne vorlesen lassen. Eine geschulte Stimme im Ohr, die beim Abwaschen, auf dem Weg zur Arbeit oder beim Spazierengehen ein Buch vorliest. "Hörbücher haben ebenfalls ihre besondere Qualität; das kann aber auch manchmal beim Zuhören eine gewisse Distanz schaffen", sagt Carsten Sommerfeldt. Er war als Literaturvermittler und Verlagsleiter tätig, bevor er Shared Reading in Deutschland aufbaute.
Die Idee kommt aus Liverpool und ist in Großbritannien längst etabliert. Beim Shared Reading kommen Menschen jeweils für anderthalb Stunden in Gruppen zusammen. Literarisches Vorwissen brauchen sie nicht, sie müssen vorab keinen Text lesen. Den stellt der Leiter der Gruppe, der Facilitator, zur Verfügung. Wenn die Teilnehmer möchten, lesen sie sich dann gegenseitig vor. Und reden im Anschluss über die Geschichte. Am Ende der Treffen geschieht das Gleiche nochmals mit einem Gedicht.
Sommerfeldt betont das Gemeinschaftsstiftende des gegenseitigen Vorlesens, die Verbindung, die dabei entstehe: "Man sitzt sich gegenüber. Das schafft viel Nähe. Und durch seine eigene Stimme einen Text zum Leben zu erwecken, kann sehr bereichernd sein." Für ihn auch eine Erinnerung an die Vorlesesituationen als Kind: "Dieses Gefühl von Behaglichkeit, das man beim Vorlesen als Kind gespürt hat, kann man auch als Erwachsener wiederfinden – im lauten Vorlesen und Zuhören."
"Damit bin doch ich gemeint. Das ist mein Buch."
In einer Gruppe zu lesen, schaffe einen anderen Blickwinkel auf Literatur, sagt Sommerfeldt. "Die meisten fangen in den Shared Reading Gruppen beim anschließenden Reden über den Text schnell an, über sich zu sprechen und eigene Erfahrungen zu reflektieren." Schließlich kreise Weltliteratur um die großen Themen: Trauer, Tod, Liebe, Scham, Schuld. "Das kann jeder von uns nachvollziehen. Wenn man einen Text vorgelesen bekommt, bleibt eher ein Wort oder ein Satz hängen, von dem man denkt: Damit bin doch ich gemeint. Das ist mein Buch."
Ich weiß, was er meint. Ich lag im Sommer mit einer Freundin auf einer Wiese in Erfurt, wir hatten uns für ein Wochenende dort getroffen. Wir mussten aus unserer Ferienwohnung bereits auschecken, lagen, bis der Zug fuhr, auf einer Picknickdecke unter einem Baum. Meine Freundin begann, mir aus dem Buch vorzulesen, das wir am Tag zuvor gekauft hatten. Die Frauen, um die es ging, das waren einfach wir.
Widersprüchliche Gefühle und Literatur
Jane Davis, die Gründerin von Shared Reading in Großbritannien, sagte vor fünf Jahren an der Leipziger Buchmesse, als die Lesegruppen auch in Deutschland vorgestellt wurden, dass dieses gemeinsame Lesen keine Therapie sei, aber therapeutische Wirkung habe. Sie habe gute Erfahrungen gemacht in der Zusammenarbeit mit Demenzpatienten, Drogenabhängigen, psychisch Kranken, alten und einsamen Menschen.
In einem Text zum Thema aus dem Jahr 2017 zitiert die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" die Ärztin Christiane Faust-Bettermann: "Wir lernen Patienten kennen, deren inneres Dilemma es ist, widersprüchliche Gefühle zu erleben, mit denen sie nicht zurechtkommen. Gute Literatur hat das schon in Worte gefasst." Eine aktuelle Studie aus Großbritannien kommt zum Schluss, dass Shared Reading auch in Gefängnissen positiv aufgenommen wird.
Gemeinsames Lesen ist beliebt
Anders als beim Shared Reading wird in den meisten Lesekreisen vorab privat ein Buch gelesen und dann bei einem gemeinsamen Treffen vor Ort oder online darüber gesprochen. Buchhandlungen, Büchereien, Literaturhäuser oder Volkshochschulen bieten solche Angebote an. Und sie sind beliebt. Kerstin Hämke, Betreiberin der Website mein-literaturkreis.de, geht von einer beachtlichen Anzahl von 70.000 physischen Lesekreisen in Deutschland aus, zwei Drittel davon privat. Ein Austausch unter Freunden und Bekannten über Literatur.
Hämke sagt im Interview mit dem Branchenmagazin "Börsenblatt": "Durch Lesekreise hat man die Möglichkeit, das Hobby mit anderen zu teilen, hat Gesellschaft und lernt neue Bücher kennen, die man sonst nicht gefunden hätte. Außerdem gibt es so die Möglichkeit, die eigene Meinung mitzuteilen und in den Diskussionen andere Sichtweisen zu bekommen."
Zehn richtig lange Hörbücher für den Sommerurlaub

Gesprochen von Tessa Mittelstaedt
Spieldauer: 27 Std. und 17 Min.
Ken Follett ist der Meister dicker Bücher, bei seinem jüngsten Werk "Never" hat er sich indes zurückgehalten. Tessa Mittelstaedt liest den spannenden und vielschichtigen Thriller in "nur" 27 Stunden.
Mit den sozialen Medien haben sich noch einmal neue, weit verbreitete, ortsunabhängige Möglichkeiten für Lesekreise eröffnet. Und auch für eine jüngere Zielgruppe. Wie TikTok gerade zur "größten Lesegruppe der Welt wird", schrieb "Die Zeit" im Herbst. Beiträge mit dem Hashtag #BookTok werden milliardenfach gesehen. Darunter findet sich ein Austausch über Leseerfahrungen, Buchempfehlungen, aber auch Bücher, die in der Tonne landen. Kleine Trailer zu Büchern und kunstvolle Zusammenfassungen. Es sind Inszenierungen von und mit Büchern. Es ist ein Argument gegen Kulturpessimismus: Die junge Generation liest. Und vielleicht werden aus den Jugendlichen ja später Erwachsene, die sich öfter mal gegenseitig vorlesen.
Quellen: Börsenblatt, Buchmarkt, Die Zeit, FAZ (I), FAZ (II), HM Prison and Probation Service, Shared Reading, TikTok, Vorlesemonitor