Teil1:
Ingrid hasst diese Blicke. Sie spürt förmlich, wie sich fremde Augen in ihren Rücken bohren, ihren Gang taxieren und der Kopf daraus seine Schlüsse zieht. Wie sich die Menschen dann wie zufällig noch einmal umdrehen, sobald sie sie überholt haben. Sie, eine ältere Frau, die langsam und schlingernd den Weg bewältigt, wie ein Tanker ohne Kapitän. Wie betrunken. Und genau so gucken diese Menschen. Mitleidig bis abwertend, und manchmal fast schon gehässig, wenn sie ihren Kaschmirmantel bemerken: "Reich und besoffen. Geld macht eben doch nicht glücklich."
Teil 2:
Nummer 461 ist schlecht gelaunt - wie so oft. Zu oft, wie er meint. Sogar immer, würden die anderen Wichtel sagen. Einen Miesepeter, nennen sie ihn, einen bösartigen Grummler. Dabei beschließt Nummer 461 jeden Morgen, nachdem er seinen Wurzeltee getrunken hat, heute möglichst gut gelaunt zu sein. Aber das klappt nicht. NIE. Nicht, wenn er mit DIESEM UNFASSBAR UNFÄHIGEN PACK zusammen arbeitet. Nummer 461 wird schon ganz schwarz vor Ärger (bzw. sein Bauchnabel: ein typisches Wichtelphänomen). Wie sollte er, der Leiter der Geschenke-Wichtel, das Weihnachtsfest erfolgreich vorbereiten, wenn diese IDIOTEN so unkonzentriert arbeiten! Und nun streiken sie auch noch. Wegen eines Pilzes. EINES PILZES!
Teil 3:
Natürlich war der Pilzstreik auf dem Mist des Betriebsrates gewachsen. Den hatte Nummer 461 ja von Anfang an gefressen. EIN BETRIEBSRAT. Der war einer der ersten Folgen dieses ominösen Internet, das ihm nur Scherereien brachte. Aber schließlich mussten sie im Weihnachtswunderwerk, kurz WWW, mit der Zeit gehen: Sie mussten wissen, wo die Menschen ihre Geschenkideen fanden. Leider fanden die Wichtel dort auch "Anregungen", wie die Jungwichtel es nannten. Jaha… und nun hatten sie heraus gefunden, dass dieser Pilz, ein Schimmelpilz, die Gesundheit gefährdet. Diese VERDAMMTEN HORNOCHSEN, schallt es im Kopf von Nummer 461, als er sich zur Pilzfundstelle aufmacht. Hatte ihnen dieses Internet den letzten Rest ihres kümmerlichen Hirns ausgesaugt? WICHTEL KÖNNEN DOCH GAR NICHT KRANK WERDEN!
Teil 4:
"In ihrem Kopf ist etwas nicht in Ordnung." Großartige Diagnose, denkt Ingrid mal wieder und steckt sich einen Lebkuchen in den Mund - das ist überhaupt das Beste an Weihnachten: Ihr Süßigkeiten-Körbchen bietet mehr Auswahl. Sie liegt im Bett. Sitzen oder Stehen kann sie nur noch unter großen Schmerzen, Gehen nur mehr schwankend und allein, wenn sie sich vollkommen auf ihr Bein konzentriert. Drei Mal pro Woche torkelt sie am See entlang, um nicht völlig einzurosten - und nicht noch dicker zu werden. Wie viel sie zugenommen hat, will sie gar nicht wissen. Bei 90 Kilogramm hat sie aufgehört, sich zu wiegen. Manchmal nennt sie sich scherzhaft einen 90+er. Einen sehr einsamen 90+er. Seit ihr Knie dem Kopf nicht mehr gehorchen will - und kein noch so großer Spezialist helfen kann - hat sie sich völlig zurückgezogen. Und im Bett ein virtuelles Leben entdeckt.
Teil 5:
"Ekelhaft", grummelt Nummer 461 nicht ohne Respekt, als er den Schimmelpilz begutachtet : Grün-schwarze, mehr oder weniger pelzige Flecken mit nass-dunklen Höfen bevölkern die Wand. Er beschnuppert das seltsame Gewächs, kratzt mit seinem Fingernagel darüber und runzelt sorgenvoll seine Stirn. Auch wenn er keine Gefahr in diesem Ding sieht, so ist es doch unschön. Und das mag er nicht dulden, nicht hier: in nächster Nähe zu Band vier. Dort, wo Nummer 333 - trotz Betriebsrat - beflissen arbeitet. Das Lachmädchen, so nennt er sie, die junge Wichtelin, die ihn mit ihrem glockenhellen Lachen begeistert. Er liebt ihre gute Laune, ihren Enthusiasmus, ihre Leichtigkeit… Hach, er seufzt.
Teil 6:
Nummer 461 hatte dieses Internet nur widerwillig akzeptiert. Im Grunde fühlte er sich zu alt für solch' neumodischen Kram. Immerhin ging es bei Weihnachten um Gefühle und plötzlich sollten Einsen und Nullen eine Rolle spielen. PFFFHH. Aber da er seine Aufgabe als Leiter der Weihnachtswichtel sehr ernst nahm, fügte er sich seinem Schicksal. Und dieses meinte es nicht schlecht mit ihm, gab ihm dieses virtuelle Neuland doch Gelegenheit, seinem geliebten Lachmädchen näher zu kommen: Sie galt als Wunschfinder-Expertin. Unter anderem, weil sie spezielle Verbindungen zu einer Organisation besaß, die zu geheimen Informationen Zugang hatte. Er hatte den Namen sofort wieder vergessen. Eine englische Abkürzung mit N…
Teil 7:
Bei Facebook heißt sie "BLinde". Doktor Halfter, ihr Hausarzt und im Grunde einzig verbliebener Kontakt, hatte sie vor dem Netzwerk gewarnt: "Frau Lindekugel, das ist gefährlich, da müssen Sie mit ihrem Namen aufpassen." Ja, ja, dachte Ingrid - und tat dann doch, wie geheißen. Allerdings primär, weil sie das Wortspiel witzig findet: Die Blinde unter den Gehenden. Haha. Naja, muss ja nicht jeder verstehen… Sie grunzt zufrieden: Der Name ist jedenfalls eingängig und nach den ersten blöden Kommentaren folgte Respekt: Die "BLinde" gilt als patente Problemlöserin ( - sofern sich die Lösung online finden lässt…).
Teil 8:
Für Nummer 461 ist klar: Der Pilz muss weg! Zwar ärgert er sich, dass er somit zum Erfüllungsgehilfen des spinnerten Betriebsrates wird. Aber er kann seinem geliebten Lachmädchen wohl kaum dieses UNSAGBAR HÄSSLICHE Gewächs zumuten. Und auch die Geschenkeproduktion muss UNBDEDINGT wieder in Gang kommen. Missmutig setzt er sich an den alten Computer in seinem kleinen Büro. "Schimmel entfernen" tippt er mit seinem Zeigefinger. NEIN, nicht "in der Wohnung! ARGH, er hasst dieses Internet. Das Weihnachtswunderwerk ist ja wohl keine Wohnung! Hier wird GEARBEITET. Dass diese Internetmenschen so eindimensional denken …
Teil 9:
Der Pilz ist ZU GROSS! Nummer 461 zieht seine Augenbrauen zusammen, während er die Suchergebnisse scannt. "Nimmt der Schimmel eine Fläche von mehr als einem Quadratmeter ein, sollte eine Fachfirma beauftragt werden." Eine Fachfirma? Wo, bitte schön, sollte er die denn aus dem Hut zaubern? Noch nie, NIE, hatten die Wichtel Schimmelprobleme gehabt, also gibt es logischerweise auch keine Fachfirma. DIESES SAUBLÖDE INTERNET. Er konnte ja wohl schlecht einen menschlichen Schimmelfachmann ins GEHEIME Weihnachtswunderwerk einladen. Da könnte er Weihnachten ja gleich abschaffen!
Teil 10: "SPD, SPD, SPD - ich kann es nicht mehr sehen!", schimpft Ingrid. Dass sie den Mitgliederentscheid auch mitten in die Weihnachtszeit setzen mussten. So viel Stollen konnte man gar nicht essen, wie man angesichts der ständigen #Groko-Berichterstattung wieder von sich geben möchte. Sie ächzt. Und kämpft mit einem Schokobon. "Haben die jetzt eine Kindersicherung in die Verpackung eingebaut, oder was?" Sie fummelt, raschelt, grummelt und hätte in ihrem Ärger fast den Horst verpasst! OMG (Internetsprech findet sie nach wie vor seltsam… aber praktisch): Sie LIEBT Horste.
Teil 11:
Oh ja, sie liebt Horste. Ihr erster Horst war ihr verstorbener Mann. Ein denkbar schlichter Mensch. Aber ein guter! Er hatte sie genommen wie sie ist - und sie ist nicht einfach, wie sich in guten Momenten eingestehen muss. Dank ihm jedenfalls hat sie mehr als ausgesorgt. Naja, und… sie kichert ob der leichten Absurdität, … seit ihren Kniebeschwerden, hat Horst überraschenderweise in ihr Leben zurück gefunden. Horst, so nennt sie die so offensichtlich unerfahrenen User, die sich mit Fragen an die Community wenden. Es sind wunderbare Geschöpfe - mit ihren simplen Fragen und der schlichten Freude, wenn ihnen geholfen wird. Und dieser hier verspricht besondere Dankbarkeit: Nummer 461.
Teil 12:
Nummer 461 ist völlig überfordert: In diesem Internet herrscht eine regelrechte Pilzinformationsschwemme. Sein Plan, sich selbst im Eiltempo zum Schimmelfachmann fortzubilden, erstickt nahezu an Sporenbeseitigungsempfehlungen. Um sich zu beruhigen, bestellt er ein paar Dutzend Gasmasken, die hoffentlich den Betriebsrat besänftigen. Sie MÜSSEN die Arbeit wieder aufnehmen, sonst fiele der Weihnachtszauber ins Wasser bzw. dem Pilz zum Opfer. Allein beim Gedanken daran entwickelt Nummer 461 das seltene Wichtelphänomen einer Gänsehaut: WASWÜRDEDERWEIHNACHTSMANNSAGEN?