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Tag 11 Die Goldene Palme geht an Anti-Bush-Film

Michael Moore war sichtlich überrascht und schwieg erst mal 30 Sekunden. Mit seiner Frage "What have you done?" trieb er dann dem sonst so abgebrühten Jury-Präsident Quentin Tarantino Tränen in die Augen.

Letzter Tag in Cannes, und wie immer vor dem großen Finale liegt ein hauchzarter Schleier aus Melancholie, Erschöpfung und Traurigkeit über der Croisette. Im unteren und hinteren Teil des Palais gelegenen Filmmarkt packen die Leute ihre Computer, Werbebroschüren und Plakate zusammen. Auch das International Village hinter dem klotzigen Festival-Zentrum, wo dutzende Länder sich die vergangenen beiden Wochen als Filmnationen präsentierten, werden die kleinen Pavillons entkernt. Alles muss hier ganz schnell gehen. Einerseits, weil viele der Gäste bereits heute wieder nach Hause fliegen, andererseits, weil an der Strandpromenade der gut 500 Meter langen weißen Zeltstadt um 22.30 Uhr die Abschlussparty steigen wird. Sogar die Sonne scheint am Ende etwas müde und gönnt sich hinter grauen Wolken eine kleine Ruhepause.

Jury setzte auf Außenseiter

Gegen halb neun Uhr abends geht sie dann im Grand Théatre Lumière vor allem für einen wieder auf: Nachdem Jury-Präsident Quentin Tarantino soeben die Anti-Bush-Doku "Fahrenheit 911" als Gewinner der Goldenen Palme 2004 verkündet hatte, steht nun ein sichtlich verdutzter Michael Moore auf der Bühne und tut, was ihm sonst eher schwerfällt: schweigen. "What have you done?" platzt es dann nach endlos wirkenden 30 Sekunden aus seinem massigen Kleinjungengesicht heraus, und Tarantino stehen die Tränen in den Augen. Diese Frage werden sich viele der Anwesenden im Saal und an den zahlreichen TV-Schirmen im Palais nicht nur in Bezug auf ihn stellen. Das Entscheidungs-Gremium um den "Kill Bill"-Regisseur - die Schauspielerinnen Emmanuelle Beart, Tilda Swinton und Kathleen Turner, der belgische Schauspieler Benoit Poelvoorde, die US-Autorin Edwige Danticat, die Regisseure Jerry Schatzberg und Tsui Hark, sowie der finnische Filmkritiker Peter von Bagh - haben konsequent auf die Außenseiter gesetzt.

War Maggie Cheungs Darsteller-Preis für ihre mitreißende Leistung in "Clean" als drogenabhängige Mutter, die um ihren Sohn kämpft, noch halbwegs vorhersehbar, gehen die großen Favoriten leer aus. Weder Walter Salles Che-Film "The Motorcycle Diaries" noch Wong Kar-Wais preisverdächtiger "2046" werden vergoldet. Den Zuschlag für den Besten Darsteller bekommt der kleine japanische Junge Yagira Yuuya für "Nobody Knows", ein Familiendrama, das eigentlich eher ein Ensemblestück ist. Als Bester Regisseur wird der Franzose Tony Gatlif auf die Bühne gerufen, dessen sehr persönliches Road Movie "Exils" die Reise eines jungen Paares von Paris nach Algerien, dem Land ihrer Eltern beschreibt. Ihren Grand Prix vergibt die Jury schließlich an den Südkoreaner Park Chan-wook, der in "Old Boy" mit zum Teil haarsträubender Brutalität die Geschichte eines glücklichen Familienvaters erzählt, den ein Unbekannter scheinbar ohne Grund entführt, ihm die Ehefrau ermordet und 15 Jahre lang gefangenhält.

"Keine politische Aussage"

Und eben "Fahrenheit 911". Hatten bereits einige Kritiker vor der Verleihung geunkt, eine Auszeichnung dieses Films würde eher die politische Aussage als die cineastische Leistung belohnen, unterstreicht die Jury im Rahmen einer Pressekonferenz nochmal ausdrücklich, dass sie schlicht den besten Beitrag des Wettbewerbs prämiert hätte. "Wir dealen hier mit Kino, nicht mit Politik", erklärt Tarantino, assistiert von Schatzberg, der nicht "den Inhalt eines Filmes, sondern den Film selbst", als ausschlaggebendes Kriterium bezeichnet.

Dass diese Entscheidung dennoch durch die jüngsten Ereignisse im Irak und einige Monate vor den Präsidentsschaftswahlen in den USA als Politikum goutiert wird, ist selbstverständlich. Ein paukenschlagartiger Gruß des "alten Europa" und liberalen Amerika an alt-konservativen Bush-Krieger.

Neues Credo: "Vive la difference!"

Insgesamt liegt die Jury mit ihren Entscheidungen also voll auf der Wellenlänge von Thierry Fremaux, der zum ersten Mal allein das Programm verantwortete. Nach zum Teil heftiger Kritik an den Beiträgen und einer ziemlich miesen Grundstimmung im vergangenen Jahr, bemühten sich die Verantwortlichen um mehr Ausgewogenheit. "Vive la difference!" fasste Tilda Swinton das Credo von Cannes 2004 zusammen. Fremaux und seine Leute setzten ein Zeichen für die Zukunft, indem weitaus mehr Genres und Newcomer eine Chance bekamen wofür einige Etablierte wie etwa Zhang Yimou und sein "House of Flying Daggers" nur außer Konkurrenz liefen. Dass sich dann auch ein Film wie "Shrek 2" in den Wettbewerb verirrte, darf als unvermeidliche Konzession an Hollywood gewertet werden, ohne dessen spektakuläre Produktionen und manchmal auch penetrantes Werbegetrommel viel von dem Glamour, den dieses größte Filmfestival der Welt braucht, verloren gehen würde.

Und so liegt es nicht nur am traditionellen Feuerwerk und den von Stars wie Alanis Morrissette, Natalie Cole, Sheryl Crow gesungenen Cole-Porter-Gassenhauern, dass sich nachts in den Gesichtern der Partygemeinde kollektive Zufriedenheit spiegelt. Am Ende des 45-minütigen Konzertes kommen sie nochmal alle auf die riesige Wasserbühne hinter dem Palais: Morissette, Cole, Crow, die Hauptdarsteller Kevin Kline und Ashley Judd, Regisseur Irwin Winkler, die Produzenten und gemeinsam zu singen. Den Titelsong ihres Abschlussfilms über den legendären amerikanischen Komponisten, der gleichzeitig hervorragend als Fazit für das Festival de Cannes 2004 taugt:"De-Lovely".

Bernd Teichmann

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