Tag 8 Kino 'cannes' so schön sein

Unpünktliche Regisseure, tränenreiche Filmvorführungen und phantastische Martial-Arts-Szenen: Auch am achten Tag strotzte Cannes vor filmreifen Szenen. Besonders stolz war Jurypräsident Quentin Tarantino auf seinen Titel als 'Offizier der Künste'.

Der eigene Terminplan für den Festivaltag ist ein höchst filigranes Konstrukt. So in etwa wie ein Kartenhaus. Zupft man nur ein einziges Kärtchen heraus, fällt möglicherweise das ganze Gebäude in sich zusammen.

Wong Kar-Wai sägte am Zeitplan

In Cannes ist die Pik Sieben, sagen wir, ein Interview, der Herz König die Vorbereitung des selben, die Pik Neun ein Gespräch im amerikanischen Pavillon zwischen dem US-Kritiker-Papst Roger Ebert und dem Schauspieler Billy Bob Thornton, das Karo Ass eine Pressevorführung, die Kreuz Neun eine Podiumsdiskussion zum Thema "Der Einfluss von Jean-Luc Godards Spätwerk auf den tadschikischen Dokumentarfilm" (das war jetzt zugegebenermaßen übertrieben) und der Karo Bube unter Umständen ein gefälliges Tagebuch, das verfasst werden will. Um im Bild zu bleiben: Wong Kar-Wai war heute der Pik König. Da der nie ohne Sonnenbrille auskommende Chinese seinen Wettbewerbsbeitrag "2046" nicht rechtzeitig abliefern konnte, mussten zwei Vorführungen abgesagt werden. Ein seltener Fall, der der Festival-Leitung spürbar unangenehm war, und den einen oder anderen Presse-Kollegen zur schweißtreibenden Neugestaltung der nächsten 48 Stunden nötigte.

Ein Favorit kommt aus Brasilien

Alles wie erwartet lief hingegen für Wongs brasilianischen Kollegen Walter Salles. Seine "Motorcycle Diaries", die die prägende Reise des jungen Ernesto Gueveras und seines Freundes Alberto Grandao durch Südamerika schildert, begeisterte sowohl die Kritiker als auch das abendliche Gala-Publikum. Das von Robert Redford koproduzierte Road Movie galt bereits im Vorfeld durch die positiven Resonanzen beim diesjährigen Sundance Film Festival als Favorit auf die Goldene Palme.

Britischer Film rührte zu Tränen

Gute Chancen auf den Hauptpreis hätten auch zwei andere Produktionen gehabt, die jedoch leider nicht zur Abstimmung stehen. Ebenso rührend wie im britischen Certain-Regard-Beitrag "Dear Frankie" die verzweifelten Versuche einer Mutter, ihrem neunjährigen Sohn die Wahrheit über seinen gewalttätigen Vater vorzuenthalten, fiel die Reaktion darauf aus. Das Publikum raste Tränen vergießend, was wiederum der Regie-Debütantin Shona Auerbach und ihrem Darsteller-Ensemble Emily Mortimer, Gerard Butler und Jake McElhone das Wasser in die Augen trieb. Kino cannes so schön sein…

Genialer Genre-Film von Zhang Yimous

Weniger sentimental, aber nicht minder begeistert war die Reaktion auf Zhang Yimous "The House of Flying Daggers", der außer Konkurrenz im Wettbewerb läuft. Der nach "Hero" zweite Ausflug des renommiertesten chinesischen Regisseurs ins Martial-Arts-Genre erzählt mit poetischer Wucht und unfassbar phantasievollen Action-Sequenzen die im Jahre 859 angesiedelte Geschichte der jungen Untergrund-Kämpferin Mei (die hinreißende Zhang Ziyi), die zwischen der Loyalität zu ihrer Bewegung und der Liebe zu zwei Männern aufgerieben wird. Ein Meisterwerk. Gute Nachricht am Rande: Sowohl "The Motorcycle Diaries" als auch "The House of Flying Daggers" haben einen deutschen Verleih und werden im Herbst in unsere Kinos kommen.

Überraschung: Politiker wollen Kino fördern

Positive Nachrichten vermeldeten gleichsam die Kultur-Minister der aufgestockten Europäischen Union. Auf Einladung des Festival-Präsidenten Gilles Jacob versammelten sich die Politiker anlässlich des "Europe Day" in Cannes und publizierten eine gemeinsame, offizielle Erklärung, die unseren geneigten, zeitunterversorgten Lesern in ihrer gespreitzten Ausführlichkeit an dieser Stelle erspart und auf das Wesentliche zusammengefasst werden darf: Das kulturell vielfältige europäische Kino soll in allen Bereichen gefördert und unterstützt werden.

Milos ist jetzt Ritter

Und bevor wir diesen Tag der Historie übergeben, wollen wir nicht unerwähnt lassen, dass der tschechische Regisseur Milos Forman ("Einer flog über das Kuckucksnest", "Hair") zum Ritter der Ehrenlegion geschlagen und Jury-Präsident Quentin Tarantino zum Officier of the Ordre des Arts et des Lettres ernannt worden sind. Was Gott sei Dank keine Auswirkungen aus irgendwelche Terminpläne hat…

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Bernd Teichmann

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